ULM. Und sie haben es wieder getan. Das Theater Ulm hat eine völlig unbekannte - ja mehr noch: eine bis dato nie aufgeführte - Oper des französischen Komponisten Charles Tournemire (1870 bis 1939) auf den Spielplan gesetzt. Für »La Légende de Tristan«, die die Ulmer vor drei Jahren inszeniert haben, gab es bundesweit Applaus und Auszeichnungen. Jetzt hat sich Kay Metzger als Intendant und Regisseur Tournemires letzte Oper vorgenommen: »Le petit pauvre d'Assise« vollendete der Komponist, der zu Lebzeiten vor allem als Virtuose an der Orgel bekannt war, 1939 kurz vor seinem Tod. Der Held der Geschichte ist in diesem Fall ein Heiliger, dessen Leben in fünf Episoden geschildert wird: Franz von Assisi.
Dass die posthume Uraufführung nun in einer Zeit geschah, in die das Leben und Sterben eines Papstes namens Franziskus fiel, hätte Tournemire vermutlich gefallen. Und dass sein Stück ausgerechnet an jenem Abend, an dem weißer Rauch aus dem Vatikan die Wahl eines neuen Kirchenoberhaupts verkündete, zum ersten Mal gespielt wurde, hätte er vielleicht nicht für einen Zufall, sondern für göttliche Fügung gehalten. Den päpstlichen Segen bekamen die Akteure vorab, ein Schreiben an den Papst blieb nicht unbeantwortet, Ende März kam Post aus Rom in Ulm an: »Papst Franziskus erbittet für alle, die an der Uraufführung mitwirken, von Herzen Gottes Segen.« Der Satz steht im Programmheft, unterm Premierenpublikum waren etliche Vertreter der katholischen Kirche.
Rückzug ins Religiöse
Tournemire schrieb seine Oper in unsicheren Zeiten. Sie ist allerdings weniger eine Auseinandersetzung mit der Politik als vielmehr Zeugnis eines Rückzugs ins Religiöse. Für die Weltpremiere gab es großen Applaus, obwohl das fast dreistündige Werk nicht nur für die Sänger, sondern auch für die Zuhörer nicht ganz unanstrengend ist.
Die zwischen Spätromantik und Moderne angesiedelte Klangsprache, die Dramaturg Christian Katzschmann ganz treffend als »Missing Link zwischen Debussy und Messiaen« bezeichnet, ist zwar farbenreich, in der Orchestrierung zeigt sich der Organist Tournemire aber durchaus auch spröde. Über dem grandiosen instrumentalen Teppich, den das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm unter Generalmusikdirektor Felix Bender ausbreitet, ergehen sich die - durchweg großartigen - Sänger nicht etwa in süffig melodiösen Arien, sondern in eher trockenen Deklamationen.
Vielfarbige Orchesterbesetzung
Bemerkenswert ist die Orchesterbesetzung, die neben den vielen Bläsern auch Schlagwerk und Harfe wichtige Rollen beimisst. Besonders in Szene gesetzt wird die Viola d'amore, die barocke Vorgängerin der Bratsche, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine Renaissance erlebte. Die Solistin steht am Bühnenrand, und auch sonst sind zeitweilig Instrumentalisten Teil der Szenerie. Neben dem Orchester im Graben gibt es ein Bläser- und ein Streichquartett auf der Bühne, hinzu kommen zwei Gitarren.
Der Text ist in seiner romantisch verklärten Frömmelei ein Produkt seiner Zeit. Tournemire war nicht nur Kirchenmusiker, sondern Anhänger einer religiösen Erneuerungsbewegung und tief gläubig. Das merkt man seiner Oper auch an, es gibt darin zum Beispiel ein Magnificat, und Franz' finaler Abgesang aus dem Jenseits hat gregorianische Anklänge. Alles sehr katholisch, und, ja, manchmal auch kitschig. Franziskus erscheint als Märtyrer, als Erlöserfigur, die - inhaltlich, nicht musikalisch - in die Nähe der Wagnerschen Gedankenwelt rückt. Parsifal lässt grüßen, und auch sonst lassen sich Parallelen ziehen. In der ersten Episode wird geschildert, wie Franziskus das Milieu, dem er entstammt, verlässt. Kay Metzger inszeniert es als pinkfarbene Partywelt der Reichen und Schönen, man mag sich an die Venus-Welt in Wagners »Tannhäuser« erinnert fühlen.
Pinke Partywelt und weiße Heiligtümer
Franziskus, Sohn reicher Eltern, verlässt diese Sphäre, entscheidet sich für ein Leben in Armut und schart Jünger um sich. Aus grellem Pink wird Weiß, Heiko Mönnich (Ausstattung) gelingt es meisterhaft, diese beiden Welten aufeinander prallen zu lassen. Im Zentrum des so reduzierten wie wirkungsvollen Bühnenbilds steht ein dreiflügeliger Altar, dessen leeren Rahmen die Hauptfiguren der Oper und ein stummer Christus in weißem Anzug und blutenden Wunden im Wechsel füllen.
Tenor Samuel Levine bringt die Wandlung des verwöhnten Jünglings François zum Heiligen Franziskus schauspielerisch wie stimmlich überzeugend auf die Bühne. Maryna Zubko ist als Claire sein weibliches Gegenstück auf Augenhöhe, sehr stark vor allem in dramatischen Momenten. Das Ganze hat was von Passionsfestspielen und ist sicher auch Geschmackssache - eines aber steht außer Frage: Dieses Werk mit all dem damit verbundenen Aufwand aus den Tiefen der Nationalbibliothek in Paris ans Licht der Öffentlichkeit geholt zu haben, ist ein großes Verdienst. (GEA)