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Aktuell Sinfoniekonzert

Durchbruch in doppelter Hinsicht

Ariane Matiakh dirigiert bei der Württembergischen Philharmonie Brahms und verlängert ihren Vertrag

Innige Versenkung: Saleem Ashkar als Solist im ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms. FOTOS: KNAUER
Innige Versenkung: Saleem Ashkar als Solist im ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms. FOTOS: KNAUER
Innige Versenkung: Saleem Ashkar als Solist im ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms. FOTOS: KNAUER

REUTLINGEN. Es war ein besonderes Sinfoniekonzert am Montagabend in der Stadthalle, für die Württembergische Philharmonie Reutlingen (WPR) wie für Chefdirigentin Ariane Matiakh. Unmittelbar vor dem Konzert unterzeichnete Matiakh im oberen Foyer die Verlängerung ihres Vertrags um weitere drei Jahre. Strahlend verkündete sie: »Das musste sein! Wir haben noch so viel zusammen umzusetzen!« Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck war als Stiftungsratsvorsitzender der WPR hin und weg vor Freude. »Sie haben bei uns richtig eingeschlagen«, wollte er schon ausrufen, korrigierte sich dann aber: Das mit dem »einschlagen« sei in diesen Zeiten wohl keine so glückliche Formulierung.

Gemeinsamer Elan

Nicht jeder hätte gewettet, dass es die Französin so lange bei der WPR halten würde. Zu gefragt schien sie in den großen Metropolen von Paris bis Hamburg. Aber die Chemie scheint zu stimmen. In Corona hat man gemeinsam Online-Konzerte im leeren Saal durchgestanden, sie damals noch als Gastdirigentin; seither hat sich ein gemeinsamer Elan entwickelt. Matiakh schätzt den Gemeinsinn des Orchesters – und die Möglichkeit, hier gestalten zu können mit einem Intendanten, der ihr viele Freiräume lässt.

Arne Braun war extra angereist aus Stuttgart, der Staatssekretär im Landeskunstministerium. Man arbeite an derselben Herausforderung, sagte er, nämlich eine polarisierte Gesellschaft wieder zueinanderzubringen. Zuvor hatte er die VR-Brillen des »Philmo«, des Philharmonie-Mobils, getestet, zusammen mit OB Keck, seiner Vorgängerin Barbara Bosch, dem Grünen-Landtagsabgeordneten Thomas Poreski und anderen. In virtuelle Orchesterwelten waren sie abgetaucht; geradezu geschwindelt habe es ihn am Schluss, gestand Braun. Nach der Vertragsunterzeichnung überreichte Flötist Peter Eberl im Namen des Orchesters Blumen, bedachte seine Chefin mit Komplimenten in blütenreinem Französisch und fiel ihr um den Hals. Eine Reihe von Musikern war dazugekommen, dem nahen Konzertbeginn zum Trotz, schon im Frack. Es ist unübersehbar: Man mag sich.

Bei der Vertragsunterzeichnung: Reutlingens OB und Stiftungsratsvorsitzender Thomas Keck, Ariane Matiakh, Intendant Cornelius Gr
Bei der Vertragsunterzeichnung: Reutlingens OB und Stiftungsratsvorsitzender Thomas Keck, Ariane Matiakh, Intendant Cornelius Grube und Staatssekretär Arne Braun (von links). Foto: Armin Knauer
Bei der Vertragsunterzeichnung: Reutlingens OB und Stiftungsratsvorsitzender Thomas Keck, Ariane Matiakh, Intendant Cornelius Grube und Staatssekretär Arne Braun (von links).
Foto: Armin Knauer

Das Konzert selbst bot zwei Großwerke: das monumentale erste Klavierkonzert von Johannes Brahms und die voller Empathie ausgreifende achte Sinfonie seines Schützlings Antonín Dvo rˇák. Der Solist im Brahms-Konzert hat eine faszinierende Vita: Saleem Ashkar wuchs als palästinensischer Christ im israelischen Nazareth auf, lebt in Berlin und unterrichtet in Boston. Er setzt sich für das gemeinsame Musizieren von Juden und Palästinensern ein und hat dafür das Galilee Chamber Orchestra gegründet.

Seine Art, das Brahms-Klavierkonzert zu spielen, diesen zuweilen fast gewaltsamen Durchbruch des jungen Komponisten zur großen Orchestermusik, ist erstaunlich. Dem Üppigen, Feierlichen, Pathosgeladenen in Brahms’ Klaviersatz weicht er in keiner Weise aus. Statt kühl die Linien zu ziehen, entfacht Ashkar einen opulenten, orchestralen Klavierklang mit satten Bässen und großzügigem (aber gezieltem!) Pedalgebrauch. Ein Klang, in dem enorme Wärme lodert, fast so, als säße man am Kaminfeuer.

Der Flügel singt

Gleichzeitig bringt Ashkar die Melodien zum Strömen. Selten hat man einen Flügel so inbrünstig singen gehört! Zuweilen bebt Ashkar bei innigen Akkorden sogar mit den Händen nach, so, als könne er den Klang nach dem Anschlag weiter formen. Was physikalisch natürlich nicht geht und doch einen inneren Fluss in die Melodik zaubert. Dabei nimmt Ashkar sich Freiheiten, träumt ins Weite, lässt den Klang zart ins Orchester gleiten, zu Hörnern, Klarinetten, Flöten, Oboe, Fagotten, zu den Celli und Bratschen, den Geigen. Als Gegenpol zum Gefühlsüberschwang gibt er hier und da Humor dazu, ein Stakkato, so, als würde Brahms sich ein Schmunzeln abringen.

Großes Kino, und Ariane Matiakh verwebt das mit dem Orchester zu einem in warmen Klangfarben strömenden Kosmos. Als Zugabe spielt Ashkar, der Mann mit den vielen Heimaten, »Von fremden Ländern und Menschen« aus Schumanns »Kinderszenen«. Ein Stück von Brahms’ großem Gönner, nicht schwierig – doch große Kunst, wie Ashkar das gestaltet.

In Dvo rˇáks achter Sinfonie fällt das Wuchtige von Brahms’ Klavierkonzert ab und man zaubert vollends beseelt und gelöst. Matiakh hat am Pult den Spaß ihres Lebens und die Musiker legen ihr diesen Dvo rˇák zu Füßen, mit butterweichen Cello- und Bratschenstellen, mit milder Walzermelancholie der Geigen, mit glitzernden Flötenrufen, verwunschenen Hornchorälen, schunkelnden Volkstonanklängen in Oboe und Klarinette und überschäumendem Blechbläserjubel.

Das Publikum mag sich nicht trennen von alldem – und bekommt den berühmtesten aller Ungarischen Tänze von Brahms als Nachschlag. So viel Großzügigkeit muss sein an diesem Tag. (GEA)