REUTLINGEN. Gleich zwei Konzerte mit identischem Programm hatte die Junge Sinfonie Reutlingen an Silvester angesetzt, um zum Jahresende möglichst vielen ein musikalisches Live-Erlebnis zu ermöglichen – nachdem im Vorjahr das Silvesterkonzert dem Lockdown zum Opfer gefallen war. Bis auf die Bläser und Solist Thomas Haas waren alle mit Maske zugange. Beide Konzerte waren gut besucht.
Beim ersten Auftritt am Spätnachmittag brauchte das Orchester nur Sekunden, um das Publikum in eine besondere Stimmung, eine märchenhafte Welt zu versetzen. Engelbert Humperdincks Ouvertüre zur spätromantischen Oper »Hänsel und Gretel« entfaltete mit der Melodie des Abendsegens (»Abends will ich schlafen gehn«) jenen poetischen Zauber, der einen die »Hexe« Corona für einen Moment vergessen ließ.
Zum tröstlichen Choral der Bläser gesellten sich sanft und wohlig die Streicher dazu, bevor Blechbläser und Schlagwerk Pathos in die Sache brachten und die Motivarbeit begann. Die Flöte war es, die nach einem turbulenteren Abschnitt erneut zu entspannten Klängen überleitete. Herzenswärme, Lauterkeit des Ausdrucks, sie waren nie gänzlich zu verdrängen .
Nach diesem überzeugenden Auftakt betrat mit Thomas Haas der Solist des Nachmittags beziehungsweise Abends im Saal der Reutlinger Freien Georgenschule die Bühne. Der 2002 geborene Cellist studiert an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Er ist Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Deutschen Stiftung Musikleben, hat unter anderem als Stimmführer der Jungen Sinfonie Reutlingen Orchestererfahrung gesammelt und wurde mehrfach ausgezeichnet.
Hommage an Mozart
Hier nun spielte er, begleitet vom Orchester, die »Rokoko-Variationen« Tschaikowskys. Die Musik dieses »sonnigen Genies« rühre ihn »zu Tränen«, schrieb Tschaikowsky einmal. Gemeint war die Klangwelt Mozarts, auf die sich der russische Komponist in seinen Thema mit Variationen besinnt. Wobei doch immer wieder eine romantische Schwermut durchbricht.
Er spickt die zunächst simpel anmutende Hommage mit allerhand Virtuositäten für das Solo-Cello. Romantisch ausladend, temperamentvoll tänzerisch und besinnlich kommt die Musik daher, hohe Lagen nicht scheuend. Mit viel Klang, gut dosiertem Vibrato, »viel Sahne«, wie Cellistin Sol Gabetta das nennen würde, spielt Haas, überaus stil- und intonationssicher – und stellt dabei, auch in den Kadenzen, technische Raffinesse nie über den Ausdruck. Das berührt. Auch, weil Dirigent Konrad Heinz und das Orchester sensibel mit am Klanggespinst weben. Angefangen mit dem Horn, das das Thema gleich zu Beginn ruhevoll und mit berückender Aura antizipiert. Der »Elfentanz« von David Popper, den Haas und seine Mitmusiker nach sattem Applaus als Zugabe spielten, war dann Rasanz und Virtuosität pur.
Dann schwiegen die Streicher. Friedrich Zehms »Schwierigkeiten und Unfälle mit einem Choral« (1974) für einen Dirigenten und zehn Bläser zeigte einen Orchesterleiter, der dirigierend Blitze schleuderte, die im Ensemble verirrt klingende Laute eines Babyelefanten, eines stotternden Motors oder auch einer Schneelawine auslösten. Zur Satire gehörte, dass die Musiker mitten im Stück einfach ihre Noten umdrehten und lustig weiterexperimentierten. Ein Kuckuck, eine Trillerpfeife und das Rauschen im Walde – hier fügte sich passend Verdrehtes zusammen.
Die Junge Sinfonie kehrte schließlich in Vollbesetzung mit wunderbarer Programmmusik zum Ernst zurück. Faszinierend, wie lebendig die »Moldau« hier vom ersten Ton der Flöten an, begleitet vom Pizzicato der Geigen, strömte in Bedrich Smetanas gleichnamiger sinfonischer Dichtung. Munteres Quellen, majestätisches Fließen und helles Glitzern, zu dem etwa die Harfe beitrug, traten hier zutage, Turbulenzen, ein Hochzeitsfest mit Gesang und Tanz oder auch die Hornsignale einer Waldjagd. Was für eine gelungene Tonmalerei! Wirklich beeindruckend, wie souverän und gestaltungssicher sich die Junge Sinfonie hier präsentierte. Wäre doch ein Jammer gewesen, hätte dieses Konzert wegen eines Lockdowns nicht stattfinden können!
Mit dem schwungvoll gespielten Radetzky-Marsch schloss das Jugendorchester das alte Jahr ab. (GEA)