DONAUESCHINGEN. Gegründet wurden die Donaueschinger Musiktage bereits 1921, zum Neue-Musik-Fest von Weltrang avancierten sie jedoch erst ab 1950. Da nämlich stieg der Südwestfunk ein, und plötzlich konnte das bis dato auf Kammermusik beschränkte Festival mit einem Sinfonieorchester und einem Profichor punkten, ein paar Jahre später zudem mit einem eigenen Experimentalstudio für elektronische Musik. Damit war man der Konkurrenz enteilt.
Die Partnerschaft zum Rundfunk, der inzwischen SWR heißt, ist bis heute Rückgrat des Festivals. Dass sie nun schon 75 Jahre dauert, wurde bei der aktuellen Ausgabe gefeiert, die am Sonntag zu Ende ging. Dass die »Ehe« auch mal kriselte, blieb nicht unerwähnt. Festrednerin Eleonore Büning erinnerte daran, dass vor einigen Jahren SWR-Intendant Peter Voß versucht hatte, aus Spargründen einen zweijährigen Turnus durchzusetzen. Das konnte abgewendet werden, nicht jedoch die Fusion der beiden Rundfunkorchester in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg zum SWR Symphonieorchester.
Redefreudiger Auftakt
»Voices Unbound«, also »entfesselte Stimmen«, lautete das Motto der erneut von Lydia Rilling kuratierten Ausgabe. Was hieß, dass zunächst wahnsinnig viel geredet wurde. Zunächst über die Machtstrukturen im Musikgeschäft am Auftakt-Donnerstag; beim Festakt am Freitag dann über den rundfunkgestützten Aufstieg des Festivals in der Nachkriegszeit.
Letzteres gleich in fünffacher Ausfertigung, weil sämtliche Träger-Institutionen zu Wort kommen mussten, mit Beiträgen, die sich teils zu kleinen Festreden auswuchsen: Kulturprogrammdirektorin Anke Mai für den SWR, Kirsten Haß für die Kulturstiftung des Bundes, Staatssekretär Arne Braun für das Land, OB Erik Pauly für die Stadt Donaueschingen und Konrad Hall für die Gesellschaft der Musikfreunde. Dabei hatte man doch mit Kritikerlegende Eleonore Büning eine Festrednerin, die das historische Terrain beackern sollte. Was sie auch anekdotenreich tat, gewürzt mit Erinnerungen an persönliche Sternstunden.
Träume von Migranten
»Voices Unbound«, das hätte heißen können, die Stimme zu erheben gegen Missstände in der Welt. Das Festival jedoch blieb unpolitisch. Allenfalls Félix Blume griff ins Gesellschaftliche mit seinen beiden Klanginstallationen. Die eine im Fischerhaus verschaffte Menschen in der brasilianischen Metropole Sao Paulo eine Stimme, viele von ihnen Migranten aus Haiti. Ihre Träume schallten aus rund 30 kleinen Lautsprechern an der Wand. Konnten einzeln abgelauscht werden oder im Abstand als Chor sich mischender Lebensträume. In der Alten Molkerei machte Blume den Geh-Takt von Donaueschingern hörbar, vom Kind bis zum Senior, indem je ein Schuh von 30 Einwohnern im durchschnittlichen Marschiertempo seines Trägers elektromechanisch auf eine Kiste klopfte.
Ansonsten setzte das Festival der entfesselten Stimmen oft auf leise Töne und flocht die menschliche Stimme nur hier und da ein. Im Eröffnungskonzert mit dem SWR-Orchester kam sie gar nicht vor. Marc Andres Abtasten des gerade noch Hörbaren in »Im Entfalten« offenbarte zarten Reiz, bekam aber gleich Konkurrenz vom fast ebenso zurückhaltenden Stück Turgut Ercetins, indem immerhin die tiefen Bläser grollten zum sensiblen Spiel von Klarinettensolist Carl Rosman. Lebhafter wurde es im zweiten Teil bei der Koreanerin Imsu Choi. Und in Pilippe Leroux' Paris-Hommage pulsierte quirlig das Treiben der Großstadt.
Silbentanz vom Altmeister
Aber dann: Am Samstagmorgen gab's 60 Minuten Stimmkunst am Stück von Altmeister Georges Aperghis mit dem Ensemble Exaudi. Ein virtuos verzahnter Silbentanz, kommentiert von Tabea Zimmermann an der Bratsche. Den Text zu haben, wäre nett gewesen. Was auch für den von japanischer Hofmusik inspirierten Zyklus »Bar, Unfolding« von Kaja Draksler galt, den die Komponistin und Pianistin mit ihrem Oktett in der kleinen Realschulsporthalle aufführte. Vertonungen von Haikus erklangen da, japanischen Kurzgedichten, teils erstaunlich wohlklingend für Donaueschinger Verhältnisse, mit zwei Sopranstimmen, Saxofonen, Bratsche, Schlagwerk, Klarinetten, Klavier – und einer sanft wehenden japanischen Flöte.
Gleich nochmal wehte es harmonisch – nun aus fünf Mundharmonikas auf dem kühlen Lammplatz, gespielt vom Ensemble HANATSUmiroir. In dem Stück von Tristan Perich mischte sich der Harmonikaklang nahtlos mit dem handyartigen Piepsen der Elektronik zu einer reizvoll pulsierenden Minimal Music. Noch kälter war es vorige Nacht gewesen, als die Britin Mariam Rezaei an den Plattentellern beim Schlosspark Schnipsel aus 75 Jahren Festival-Klangarchiv zu einer Art Techno-Disco gemixt hatte. Da half nur Abtanzen.
Klang-Umarmung des Publikums
Fehlte noch ein richtiges Raumklang-Spektakel. Das lieferte die Berlinerin Hanna Eimermacher am Samstagabend in den Donauhallen mit dem Klangforum Wien. In Farblicht getaucht ist das auf Matten kauernde Publikum umringt von Schlagwerk, Bläsern, Streichern, Akkordeon, Synthesizern. Hier und da rauscht der Donner tiefer Trommeln durch den Saal, steigert sich das Gehämmer auf Alustangen zum schrillen Gedengel. Aber auch hier ist viel Stille, flüsterleise Klangfelder, die Magie der Zwischentöne.
Was vielleicht die Aussage des Festivals war: dem grellen Schwarz-Weiß der Debatten die feinen Schattierungen entgegenzuhalten. Das Lauschen ins Unbekannte, das Auffangen von Signalen jenseits der eigenen Blase. Wenn man das bei einem solchen Festival lernen kann, ist das gar nicht wenig. (GEA)






