REUTLINGEN. Wenn Ariane Matiakh die Württembergische Philharmonie am 14. April in der Stadthalle dirigiert, ist es für sie ein besonderer Einsatz. Einmal, weil sie bei dem Orchester im September die Stelle als Chefdirigentin übernimmt. Dann natürlich auch, weil es kein normales Konzert ist, sondern ein Benefizkonzert vor dem Hintergrund eines Krieges, der jetzt zur Stunde mitten in Europa tobt seit dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Ein besonderes Konzert ist es jedoch auch, weil Matiakh selbst ukrainische Wurzeln hat. Ein Großvater von ihr stammt von dort, sie selbst hat noch Verwandte in dem Land, zu denen sie noch immer Kontakt hält.
Große Sorgen
»Wir machen uns um sie große Sorgen«, sagt Matiakh im Telefongespräch mit dem GEA. Die Französin lebt selbst in Straßburg. Manche ihrer Verwandten seien bereits geflohen, andere hätten sich entschieden zu bleiben. Eine Kusine von ihr habe organisiert, dass eine ganze Reihe von Verwandten in die Schweiz kommen konnte.
Es werde jedoch immer schwieriger, noch aus der Ukraine herauszukommen. Ihre Verwandten lebten in einem kleinen Dorf im Osten der Ukraine. Das Land bis in den Westen zu durchqueren, werde zunehmend schwierig. Noch sei es ruhig in dem Dorf, aber man höre die Explosionen, niemand wisse, wann der Krieg auch dorthin kommt.
Flucht des Großvaters
Es sei ein dramatischer Moment gewesen, als die Nachricht vom Angriff Russlands auf die Ukraine eintraf, erzählt Matiakh. »Für die ganze Familie war es wie eine Ahnung, dass die Geschichte sich wiederholt.« Denn auch Matiakhs Großvater war bereits vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen, vor ziemlich genau 100 Jahren.
Damals brachten die bolschewistischen Truppen im Nachgang zur kommunistischen Revolution die Ukraine unter ihre Kontrolle. Wer als Vertreter der Bourgeoisie galt, darunter viele Intellektuelle, musste um sein Leben fürchten. Ihr Großvater floh nach Frankreich – er habe aber immer Sehnsucht nach der Ukraine gehabt, sagt Matiakh.
Vieles sei heute wie damals: »Die Menschen erleben einen totalen Bruch, sie mussten alles zurücklassen.« Es sei schwer zu begreifen, wie sich Geschichte in dieser Weise wiederholen könne. Tragisch sei, dass der Krieg all das zerstöre, was Kultur aufgebaut habe: Die Zusammenarbeit, das Miteinander von Menschen unterschiedlichster Nationen, das sei es, was die Kultur präge.
Das gelte es zu aktivieren. Natürlich könne Kunst keine Kriege stoppen – aber die kulturelle Zusammenarbeit könne Grenzen überwinden. »Unsere Aufgabe als Künstler ist es, das beste am Menschen zu zeigen.«
Musiker wirken zusammen
Matiakh verweist auf die Württembergische Philharmonie, in der Musiker aus einem Dutzend Nationen zusammenwirken. Man müsse nun ukrainische Musik spielen, müsse aber auch weiter russische Musik spielen. »Es waren nicht die Künstler, die diesen Krieg begonnen haben.« Während der Pandemie habe die Musik geschwiegen, nun werde deutlich, welch essenzielle Bedeutung sie habe, um ein Signal für Versöhnung zu setzen. Matiakh spricht sich auch dafür aus, weiterhin russische Künstler auftreten zu lassen.
KONZERTINFO
Das Benefizkonzert zugunsten der Ukraine am 14. April um 18 Uhr in der Stadthalle Reutlingen wird veranstaltet von der Württembergischen Philharmonie, dem GEA und der Stadt Reutlingen. Der Erlös kommt dem Reutlinger Verein »Drei Musketiere« zugute, der damit Kriegsflüchtlingen in der Ukraine hilft. Zu erleben sind die Württembergische Philharmonie, der Knabenchor Capella Vocalis Reutlingen und Pianist Konstantin Lifschitz sowie mit Wortbeiträgen zwei Schauspieler des Reutlinger Theaters Die Tonne. Dirigentin ist Ariane Matiakh, Moderatoren sind Iris Goldack und Roland Hauser vom GEA. (GEA)
Etwas anderes sei es, wenn diese sich nicht vom Krieg und vom Putin-Regime distanzierten. »Da muss man dann streng sein.« Den Rauswurf von Valery Gergiev in München findet sie daher auch richtig. Anders sieht sie es bei Star-Sopranistin Anna Netrebko: Diese habe sich deutlich vom Krieg distanziert, schließlich auch vom Regime – und habe dafür sogar in Russland Auftrittsabsagen kassiert. Für sie sei die Lage gerade sehr kompliziert.
Beim Benefizkonzert kommen zwei Komponisten aus der Ukraine zu Wort: Valentin Silvestrov mit einem »Abendsegen« für Streichorchester, Myroslav Skoryk mit einer »Melodie« für Orchester. Zudem wird die ukrainische Nationalhymne erklingen. Das alles sind ruhige und melodische Werke. Schön und berührend findet Matiakh, dass auch der Knabenchor Capella Vocalis an dem Konzert mitwirkt: »Es geht ja um die Zukunft der jungen Generation, darum, in welcher Welt sie aufwachsen.«
Pianist aus der Ukraine
Mit Konstantin Lifschitz ist ein Pianist als Solist dabei, der selbst in der Ukraine geboren und aufgewachsen ist, im nunmehr umkämpften Charkiw. Er wird zwei Sätze aus Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466 spielen, das mit seinem tragischen Ton der Thematik durchaus angemessen ist, wie auch Ariane Matiakh findet. Ihr ist wichtig, dass das Klavier eine zentrale Rolle spielt: »Es hat einen Ton, der sehr persönlich zu uns spricht.« Das sei es, was in dieser Situation gefordert sei.
Von der dunklen Dramatik im ersten Mozart-Satz abgesehen ist der Ton des Konzerts ruhig, melodiös. In Chorstücken von Brahms (»Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz«) und Mendelssohn (»Verleih uns Frieden gnädiglich«) wird die Ruhe sogar ausdrücklich zur Friedensbitte. Dieser ruhige, den Hörer in seiner Wärme berührende Tonfall ist Matiakh zentral. Die Musik solle im Konzert greifbar werden als Gegenpol menschlicher Aggression.
»Der Krieg, unser Aggressionstrieb, sie bringen uns weg von unserer inneren Spiritualität. Die Musik kann uns zu dieser Spiritualität wieder zurückbringen.« Und so vielleicht dazu beitragen, dass sich Geschichte am Ende irgendwann doch nicht mehr wiederholt. (GEA)

