Dietmar Scholz: Die Eltern hatten in Kunitz bei Liegnitz – das ist von der jetzigen Grenze etwa 60 bis 70 Kilometer entfernt – ein kleines Landkaufhaus. Dann hieß es im Krieg: Hier ist Kampfgebiet, und die Menschen müssen den Ort verlassen. Wir erhielten den »Marschbefehl« nach Sachsen. Nach Kriegsende sind wir mit einem Pferdefuhrwerk von befreundeten Bauern wieder Richtung Schlesien gezogen. Doch an der Neiße war Schluss, und wir haben erfahren, dass sich die Verhältnisse geändert haben.
Wann wussten Sie, dass Sie nicht mehr in Ihr Heimatdorf dürfen?
Scholz: Richtig gewusst hat man das eigentlich nie. Es war eben zu. Wir fuhren im Treck nach Sachsen zurück und ich kam später in ein Internat in Thüringen. Die Eltern hatten drüben wieder ein kleines Geschäft, aber das Selbstständige war nicht gefragt. Wir sind dann 1951 über Berlin in die Bundesrepublik. Zuerst ging es nach Ülzen, dann nach Gießen, dann nach Freiburg – alles Lager. Und von Freiburg konnte ich nach Urach, wo ich eine Großtante hatte. 1953 legte ich in Nürtingen das Abitur ab. Danach kam die Ausbildung für den gehobenen Dienst bei der Post, später dank pädagogischer Zusatzausbildung leitete ich das Ausbildungshauptamt.
Seit wann leben Sie in Reutlingen?
Scholz: Seit 1964. Zuerst wohnten wir in Orschel-Hagen in einem Reihenhaus. Ich hatte in dem Augenblick, wo ich verdient habe, sofort einen Bausparvertrag abgeschlossen. Ich hatte das so satt, dieses nicht wissen, wo man seinen festen Platz hat. Von der Flucht an war man darauf angewiesen, dass einem jemand ein Zimmer zur Verfügung stellt. Das ist schon ein ganz eigenartiges Gefühl. Da war ich vielleicht ein bisschen geschädigt und habe gedacht, ich muss unbedingt, und wenn’s noch so klein ist, ein Stück Eigentum haben. Am Hochzeitstag sind wir eingezogen. 1969 haben wir das Haus in Altenburg gekauft. Ich wollte halt ein Haus wie die Schwaben, wo man drumrum gehen kann. War mühsam zu finanzieren, aber wir hatten ja mehrere Räume zum Vermieten.
»Unbedingt, und wenn’s noch so klein ist, ein Stück Eigentum haben«Sie haben die verlorene Heimat auch literarisch behandelt. Was war denn jetzt für die Polen wichtig? Welche Texte haben die Studenten interessiert?
Scholz: Das eine war dieses Hörspiel »Deutschland, das harte Paradies«. Da kommen Leute von drüben hierher, und sie kommen eigentlich nicht an. Die ältere Frau, die hat die Elterngräber, ihr Haus, die Kirche, in der sie getauft und getraut wurde, drüben gelassen und kommt nun hierher. Hier ist die Welt natürlich anders. Man hat zwar freundlich gesagt: Wir werden dich schon irgendwo unterbringen. Sie wollte eigentlich ankommen, aber sie wurde ein Versorgungsfall. Professor Zimniak, Chef an der Fachhochschule in Zielona Góra (Grünberg), rief eines Tages an und sagte, ich solle mir doch mal anschauen, was er über meine Lyrik geschrieben hat, ob das mit meinen Vorstellungen übereinstimmt. Ich war platt: Der wusste alle Gedichte, die irgendwas mit der Heimat zu tun hatten. Diese Gedichte haben die Studenten beurteilt – meiner Meinung nach sehr kundig. Prof. Zimniak hat ein ganz feines Gefühl für die dunklen Töne da. Ich glaube auch, der Osten ist etwas schwerblütiger. In diesem Punkt sind sich das Polnische und das Schlesische sehr nahe. Es ist ja kein Zufall: Fast alle Barockdichter, Jakob Böhme, Gryphius, Angelus Silesius sind Schlesier.
Beschränkt sich das Dunkle auf die Heimatgedichte?
Scholz: Na, es gibt ja doch schon einiges andere, was auch diesen Ton hat. Zimniak hat einmal gesagt, es sei ein »optimistisches Moll«. Ein Privatdozent in Nordrhein-Westfalen hat auch mal mit Studenten meine Lyrik untersucht. Aber das lief in eine ganz andere Richtung. Da haben sie festgestellt, dass ich keinen Superlativ drin habe und ganz wenig zusammengesetzte Hauptwörter. Die Polen in Breslau haben übrigens dasselbe gefragt, warum es kaum zusammengesetzte Hauptwörter gebe. Ich habe gesagt: Das ist viel zu schwer. Schau’n Sie mal, wie dünn meine Gedichte sind, wie schlank, und wenn ich da ein so schweres Wort reinnehme, das wäre ungefähr, wie wenn Sie in das Filigrane des Rokoko einen Felsen reinsetzen würden. Und dann haben sie festgestellt, dass es viele ein- und zweisilbige Wörter gibt, und dass sie sehr häufig aus der Natur kommen. Auch das kann ich mir vorstellen. Ich bin kein Stadtmensch.
»Mit Humor hält man sich den Ernst vom Leibe«Und Ihre humoristischen Gedichte – erlauben Sie sich da einen Spaß?
Scholz: Es gibt ja nur zwei Arten davon. Das eine ist »Natürlich können Osterhasen fliegen«, die anderen drei Publikationen enthalten Zeichnungen, zu denen ich die Zweizeiler geschrieben habe. Prof. Feinäugle hat gesagt: »Das passt gar nicht zu Ihnen.« (lacht) Ich habe festgestellt, dass man nicht bloß eine Seite hat. Ich wollte mich auch lustig machen können – auch über mich selber. Dazu braucht man einen gewissen Abstand. Ich denke mir, die Umstände selber kann man oft schwer verändern. Aber wie man sie annimmt, oder wie man sie sieht, oder wie man’s verarbeitet, das ist einem selbst gegeben: Mit Humor hält man sich den Ernst vom Leibe.
Ihre Jugendbücher und Erzählungen haben stets eine deutliche humanistische Grundhaltung. Heißt das, dass Sie auch religiös sind?
Scholz: Das ist jetzt schwierig zu beantworten. Wenn ich die Einschätzung des Religiösen etwa so definieren sollte, wie Max Planck das mal in einer Rede gemacht hat, dann würde ich ja sagen. Wenn Sie mich fragen, ob ich das lebe und glaube, was in dem vor 2 000 Jahren entstandenen Buch steht, dann würde ich eher nein sagen. Der Planck hat so argumentiert, je weiter man über den reinen Horizont der Erde hinausgekommen ist, umso deutlicher ist man erstaunt über die Ordnung, die überall herrscht. Das heißt also, es gibt eine Ordnung, und wenn eine Ordnung existiert, muss es ja einen Impuls dafür geben. Ich denke, dass insgesamt zum Lebensprinzip etwas gehört, was der Erhaltung der Art, im weitesten Sinne auch im Psychischen helfen und entsprechen muss. Denn wenn Sie mal anschauen, auch wie die Tiere ihr Leben »organisieren«, da steckt eine unglaubliche Menge an sinnvollem Vernünftigen drin. Damit das Leben existiert, muss es eine Reihe von Eigenschaften geben, die das ermöglicht. Denn wenn jeder nur ganz wild seinen Egoismus auslebt, dann haben wir eine Wolfsgesellschaft, und dann geht alles kaputt.
Wie kommen Sie zu den Themen ihrer Geschichten?
Scholz: Die Bücher haben alle ein Thema, das mich persönlich beschäftigt hat.
»Für Lyrik braucht man ein Gehör für Sprachmusik«Wann haben Sie begonnen zu malen?
Scholz: Zum Zeichnen und zur Malerei bin ich schon früh gekommen. Es gab in Thüringen einen Professor Denk, der hat Kunstunterricht gegeben. Wir waren insgesamt sechs Leute. Mein Vater hat immer, wenn es um etwas zu lernen ging, Geld ausgegeben. Es gab natürlich wenig Material; wir mussten immer sehen, wo wir Ölfarbe herbekamen. Der Unterricht hat mir viel Spaß gemacht. Später habe ich ein paar Kurse gemacht in Tübingen bei der damaligen Kulturgemeinde. Es gab in jener Zeit hervorragende Möglichkeiten, sich zu bilden. Ich habe auch hier in Reutlingen bei der Volkshochschule einen Vorlesungszyklus gehabt, da hat der Jens über griechische Literatur gesprochen, der Gaiser über Plastiken und der Grimm über Malerei.
Waren Malen und Schreiben Ihre Freizeitbeschäftigungen? Andere gehen zum Stammtisch oder zum Fußball …
Scholz: Ich habe noch Tischtennis gespielt. In der Mannschaft in Urach. Und später mal in Riedlingen. Geschrieben habe ich viele Jahre erst am späten Abend, wenn die Arbeit getan und die Tochter im Bett war.
Was ist Ihnen heute wichtiger, schreiben oder malen?
Scholz: Das kann ich so nicht sagen. Ich habe natürlich beim Schreiben einen größeren Output. Rund 40 Bücher sind erschienen. Und das Schreiben ist einem auch deswegen nahe, weil man bewusst große Teile reflektieren muss. Das heißt, zwischen dem, was man schreibt und dem, was in einem ist, gibt es eine rational nachvollziehbare Verbindung. Nicht so sehr bei der Lyrik. Und beim Malen ist es so ähnlich wie bei der Lyrik: Sie wissen nicht ganz genau, was kommt. Nicht so wie bei der Prosa. Da muss ich ja eine Planung machen, damit die Geschichte aufgeht. Ich muss auch Fakten einbringen. Bei Lyrik ist das so: Man lässt es heraus, und der Umweg über das Bewusstsein ist zunächst nicht beim Entstehen, erst nachher, wenn ich aus dem Rohblock etwas mache, dann muss ich sagen: Das Wort passt nicht oder es ist zu schwer oder zu leicht. Für Lyrik braucht man ein Gehör für Sprachmusik. (GEA)