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Aktuell Musiktheater

Die Zeit wird kommen

Finale beim experimentellen Musikfest »Sommer in Stuttgart« mit der Uraufführung von Sergej Newskis Dokumentaroper »Die Einfachen«

Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart sowohl live wie als Video-Einspielung bei der Uraufführung von »Die Einfachen«.  FOTO: SIGMUND
Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart sowohl live wie als Video-Einspielung bei der Uraufführung von »Die Einfachen«. Foto: Sigmund/Pr Public Relations
Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart sowohl live wie als Video-Einspielung bei der Uraufführung von »Die Einfachen«.
Foto: Sigmund/Pr Public Relations

STUTTGART. Nein, als Opfer fühlen sie sich nicht. Vielmehr suchen sie nach einer Sprache, um ihre Gefühle, ihre Liebe, ihre Sehnsüchte, ihren Wunsch nach körperlicher Freiheit zu artikulieren. Die Menschen in Sergej Newskis Dokumentaroper »Die Einfachen«, mit deren Uraufführung jetzt das experimentelle Musikfestival »Sommer in Stuttgart« im Stuttgarter Theaterhaus zu Ende ging, haben alle die gleiche Erfahrung gemacht: Schon in jungen Jahren haben sie sich in Menschen des eigenen Geschlechts verliebt, ohne zu wissen, wie sie damit umgehen oder ihre Gefühle benennen sollen. »Als ich ein Kind war von sieben oder zehn Jahren«, singt die Mezzosopranistin, »war ich eine Dienerin. Ich mochte verheiratete junge Frauen oft mehr als meine eigene Mutter.«

Falsett, Stammeln, Sprechgesang

Sergej Newski, geboren 1972 in Moskau, hat sich längst zum Spezialisten für solche Sprachfindungsprozesse entwickelt: In seinen Musiktheater-Werken ringen dann die Stimmen um den richtigen Ton – im ständigen Wechsel zwischen Lautartikulation und Geräuschhaftem, zwischen Sprechgesang und vokalen Linien, zwischen angestrengten Atemgeräuschen und phonetischem Stammeln, zwischen Falsett, Einwärtssingen und mikrointervallischem Auffächern.

Wenn dann tatsächlich »normaler« Gesang erklingt, ist das wiederum ein besonderes Ereignis. Das ist auch so in »Die Einfachen«, ein Werk für fünf Stimmen, Elektronik und Video, das Newski für die Neuen Vocalsolisten, dem Stuttgarter Spezialensemble für zeitgenössische Musik, komponiert hat.

Auf den Grenzgebieten der menschlichen Stimme

Während der Komponist Alex Nadjarov für die live-elektronische Realisierung sorgte, setzte Ilya Shagalov die Musik sensibel in Szene: Das komplexe In- und Miteinander der fünf Stimmen, die meist solistisch und individuell und nur selten chorisch agieren, findet live statt. Auf den Grenzgebieten der menschlichen Stimme agieren Truike van der Poel (Mezzosopran), Daniel Gloger (Countertenor), Martin Nagy (Tenor), Guillermo Anzorena (Bariton) und Andreas Fischer (Bass) virtuos und fein ausdifferenziert.

Gekleidet in neutralem Schwarz bewegen sie sich dabei nur wenig, stehen mal vereinzelt, mal in Grüppchen. Auf vier Bildschirmen werden Videos zugespielt: Vier russische Schauspieler und Schauspielerinnen erzählen die Geschichten des Bauernsohnes, der Studentin, des Lehrers noch einmal auf Russisch. Die Videobilder setzen ruhige Akzente zwischen Porträtaufnahme, Details, blumiger Grundierung, statischer Bewegung. Sie überschneiden sich mit den auf Deutsch gesungenen Texten. Das eine überlagert das andere.

Gay-Subkultur 1920

Als »Die Einfachen« bezeichnete sich die Gay-Subkultur im nachrevolutionären Leningrad der 1920er-Jahre. Arbeiter, Angestellte, Studenten gehörten ihr an. Das Libretto zu seiner 40-minütigen Oper kompilierte Newski aus wiederentdeckten Briefen an den berühmten Psychiater Wladimir Bechterew, die die russische Historikerin Ira Roldugina 2016 publiziert hat: Briefe von Männern und Frauen aller Schichten, die ihre homosexuellen Neigungen thematisierten und Bechterew in ihrer Not um Rat fragten – seltene Privatzeugnisse aus lang vergangenen Zeiten. Zeugnisse, die heute aber ungeheuer aktuell wirken, da sich die Situation homosexueller Menschen in Russland wie in vielen anderen Ländern in den letzten Jahren deutlich verschärft hat.

Zeichen der Hoffnung

Solch künstlerisch-dokumentarische Ausrichtung ist Newski schon lange ein Anliegen – man erinnere sich an die spektakuläre Stuttgarter Staatsopern-Produktion »Boris Godunow«, in der Mussorgskis Oper gekreuzt wurde mit den kongenialen Neukompositionen Newskis, in denen er O-Töne traumatisierter Menschen aus dem postsowjetischen Russland vertont und auf diese Weise individuell erlebtem Elend und Grauen eine Stimme gegeben hat. Auch in »Die Einfachen« wird die emotionale Wirkung bei aller Modernität der Klangsprache von den zugrunde liegenden Texten unterstützt, die unmittelbar verständlich sind.

Am Ende steht eine hoffnungsvolle Botschaft: Die Zeit wird kommen, in der es jedem Menschen erlaubt ist, frei und unbehelligt nach seinen eigenen Bedürfnissen zu leben. Newski möchte »Die Einfachen« unbedingt auch in Russland zur Aufführung bringen und ist bereits in Verhandlungen. (GEA)