REUTLINGEN. »Wir beginnen bei Doppel-Anton«, verkündet Florian Ludwig am Dirigentenpult. Das Dutzend Flötisten, Klarinettisten, Oboisten und Fagottisten im Probenstudio der Württembergischen Philharmonie in Orschel-Hagen weiß Bescheid. Dort, wo über den Noten »AA« prangt, geht's los. Mystisch funkelnde Harmonien strömen in den Saal. Man übt »Tod und Verklärung« von Richard Strauss. Später sind die Blechbläser dran, dann die Streicher, jetzt die Holzbläser. Alles keine gewöhnlichen Proben. Denn neben den WPR-Profis sitzen Amateure, vom Teenager bis zum Senior.
Etwas Besonderes nimmt hier Gestalt an: die »Orchester-Akademie Baden-Württemberg«. Die Profis der WPR bereiten gemeinsam mit ambitionierten Amateuren ein Konzert vor. Das ist deutschlandweit einzigartig. Am Samstag, 21. Juni, ist Konzert in der Stadthalle. Das Publikum wird dann ein Orchester von über 90 Musikern erleben. Mit Stücken, die ein Amateurmusiker sonst selten auf dem Notenpult liegen hat: Richard Strauss' Tondichtung »Tod und Verklärung« und Maurice Ravels berühmte Instrumentierung von Modest Mussorgskis »Bildern einer Ausstellung«. Die Atmosphäre im Probensaal ist konzentriert. »Achtet auf gemeinsames Atmen«, rät Dirigent Ludwig. »Die zweite Flöte darf an der Stelle mehr führen«, fordert er. »Und die Quinte schön aufmachen, sonst passt die Terz nicht dazwischen!«
Traum vieler Amateure
Zwei Samstage lang wird geprobt, für viele der Amateure geht ein Traum in Erfüllung. Einmal gemeinsam mit den Profis in einem renommierten Berufsorchester spielen. 107 Hobbymusiker haben sich beworben, dafür eigens ein Video mit ihrem Spiel aufgenommen und eingereicht. Videos, die von den Stimmführern der jeweiligen Instrumentengruppen gesichtet wurden. »Die Rückmeldungen waren sehr wertschätzend«, lobt Susanne Häbe, die sich selbst mit der Querflöte beworben hat.
67 Spieler wurden akzeptiert, ein Teil davon sitzt nun in der Bläserprobe. Manche kommen aus Mannheim, Konstanz oder gar aus Kiel, viele aus dem Stuttgarter Raum, eine Handvoll aus der Region. Der Reutlinger Finanzbürgermeister Roland Wintzen schaffte es mit dem Fagott in die Auswahl. Nun sind Mussorgskis »Bilder einer Ausstellung« dran. Ein Teil der Spieler wechselt – damit möglichst viele mitmachen können, sind einige nur in einem Stück dran.
Tipps von den Profis
»Das war super!«, lobt Ludwig. Im Satz »In den Tuilerien« ermuntert er: »Das darf ruhig ein bisschen hysterisch klingen, wie wenn spielende Kinder schreien.« Beim »Tanz der Küken in ihren Eierschalen« ist die zweite Oboe gefordert. Das verlangte aufgeregte Geschnatter ist technisch knifflig. Profi Marius Schifferdecker gibt der jungen Amateurkollegin Rat. »Ich könnte die Stelle sonst auch übernehmen«, bietet er an. Dirigent Ludwig winkt ab: »Du schaffst das!«, ruft er der Hobbymusikerin zu. Von WPR-Flötist Martin Kühn will er an dieser Stelle mehr Flatterzungen-Ton haben. »Ich versuch's«, sagt Kühn und grinst: »Aber wenn die Oboe so schnattert ...« Gelächter im Orchester, das Eis ist gebrochen.
Das Ganze ist ein enormer Aufwand, für die Teilnehmer wie für die Philharmonie. Doch liegt das Projekt ganz auf deren Linie. Man will seine Hörer stärker einbinden. Es gab ein Mitsing-Konzert mit dem Knabenchor Capella vocalis, es gab ein Wunschkonzert, bei dem die Hörer das Programm bestimmten. Der Gipfel ist nun das gemeinsame Musizieren im Konzert.
Die Idee kam von Susanne Häbe, Amateur-Querflötistin und Mitglied im Landesverband Baden-Württembergischer Liebhaber-Orchester LBWL. Auch sie träumte den Traum, einmal mit den Profis mitzuspielen. Sie sprach den WPR-Indentanten Cornelius Grube an – und rannte offene Türen ein. Der LBWL unterstützt das Projekt mit seinem Präsidenten Rainer Wüstenhagen, der seinerseits als Amateurcellist mitmacht.
Bewerbung mit Video
Auch Häbe und Wüstenhagen mussten sich der Video-Prozedur stellen, hatten keine Vorteile, weil ohne Namensnennung bewertet wurde. »Das war ein nervenaufreibender Prozess«, stöhnt Häbe. »Aber auch sehr wertvoll«, erklärt Dirigent Ludwig. »Weil es nochmal ganz anders den Fokus aufs Üben richtet«.
Neben dem LBWL fördert die Stiftung Resonanz-Momente, eine Unterstiftung der WPR, das Projekt. Und die Teilnehmer müssen einen Beitrag zahlen. »Wir hoffen, damit kommen wir hin«, sagt WPR-Intendant Grube. Über die Stücke habe man lange diskutiert. Sie sollten die Musiker über das hinaus fordern, was sie sonst spielen. Und mitten ins Leben greifen. Was bei Mussorgskis »Bildern einer Ausstellung« sofort ins Auge springt mit Sätzen wie »Der Marktplatz von Limoges« oder »Die spielenden Kinder in den Tuilerien«. Und »Tod und Verklärung«? Der Tod, sagt Ludwig, gehöre nun einmal auch zum Leben. »Außerdem spielen viele Amateurmusiker wahnsinnig gerne Richard Strauss, haben aber kaum je die Gelegenheit.«
Konzertinfo
Das Abschlusskonzert der Orchester-Akademie Baden-Württemberg mit Werken von Richard Strauss und Modest Mussorgski/Maurice Ravel ist am Samstag, 21. Juni, um 18 Uhr in der Stadthalle Reutlingen. Die Leitung hat Florian Ludwig. (GEA)
www.wuerttembergische-philharmonie.de
Da Chefdirigentin Ariane Matiakh mit »Carmen« in London beschäftigt ist, fiel die Wahl auf Ludwig. Für den Dirigier-Professor in Detmold ist es ein Lieblingsprojekt. Weil es Amateure wie Profis nochmal anders herausfordert und ihn gleich mit: »Die einzelnen Mannschaften müssen sich finden, die Bläser zu einer gemeinsamen Artikulation kommen, wir müssen eine gemeinsame Sprache finden.« Inzwischen fahre er fast lieber zu solch partizipativen Projekten wie zu »normalen« Konzerten.
Die 107 Bewerbungen haben die Organisatoren jedenfalls überwältigt. Das Projekt soll denn auch fortgesetzt werden, verspricht WPR-Intendant Cornelius Grube, im zwei- oder dreijährigen Turnus. »Das kann Vorbildfunktion haben für Orchester in ganz Deutschland.« (GEA)