HAMBURG/STUTTGART. »Irgendwann sind die Ressourcen erschöpft«, stellt Stephan Jaekel, Unternehmenssprecher der Stage Entertainment (SE), ganz nüchtern fest. »Ein weiteres völlig totes Veranstaltungsjahr 2021, das würden auch wir nicht überleben.« Das Coronavirus bringt selbst Deutschlands Musical-Marktführer an die Grenzen seiner wirtschaftlichen Kräfte: Im vorletzten Geschäftsjahr erzielte der Konzern noch einen Umsatz von mehr als 300 Millionen Euro auf seinen 13 Bühnen hierzulande, kamen 3,3 Millionen Besucher in die Aufführungen von »Mamma Mia!«, »König der Löwen« oder »Ich war noch niemals in New York«. Doch seit Mitte März sind die zehn großen SE-Theater in Hamburg, Berlin und Stuttgart geschlossen. Kein Vorhang, kein Applaus, keine Einnahmen.
Eine Totenstille, die bezeichnend ist für den Live-Entertainment-Sektor. »Für die Branche geht es derzeit nur ums Überleben«, sagt Ralf Kokemüller. Der Vorstandschef der Mehr-BB Entertainment produziert seit mehr als zwei Jahrzehnten erfolgreich Großmusicals wie »Thriller« oder »Bodyguard« und schickt selbige auf Touren durch Deutschland und Europa.
Schickte, denn angesichts geltender Abstandsregeln und Obergrenzen für Besucherzahlen – oder jetzt des Shutdowns – rechnen sich all diese Produktionen nicht mehr. »Erst wenn unser Saal zur Hälfte verkauft ist, ergibt sich eine schwarze Null«, rechnet Ulrike Propach, Pressesprecherin des Festspielhauses Neuschwanstein, vor. Mit der Folge, dass auch in dem Füssener Haus das Musiktheater um den Märchenkönig »Ludwig²« nicht zu erleben ist.
Harry Potters Zauberstab ruht
Ähnlich sieht die Rechnung für die Musicals der Stage Entertainment aus – allerdings lediglich für die bereits seit Jahren laufenden und amortisierten Produktionen. Sämtliche für 2020 geplanten Premieren sind indes erst einmal ins kommende Jahr verschoben worden, denn hier gilt: Nur mit einem voll ausgelasteten Haus geht die Rechnung auch auf. Schließlich sind solche Neu-Inszenierungen schon vorab mit gewaltigen Kosten verbunden.
42 Millionen Euro hatte Mehr-BB Entertainment in die geplante deutsche Erstaufführung von »Harry Potter und das verwunschene Kind« samt Hogwart-gerechtem Umbau einer Halle am Hamburger Großmarkt gesteckt, Geschäftsführer Maik Klokow für fünf Millionen Euro eine gewaltige Marketing-Maschinerie anlaufen lassen und mehr als 300 000 Eintrittskarten verkauft – bis dann einen Tag vor der Premiere der Frühjahrs-Lockdown kam.
Nun ist als neuer Start für das Zauberspektakel der 11. April 2021 geplant: Doch kann der Termin wirklich gehalten werden? Die Pandemie-Maßnahmen könnten Harry Potters Zauberstab ebenso zur Untätigkeit verdammen wie die Stage-Musical-Abenteuer von Disneys »Eiskönigin« und der Hexen von Oz in »Wicked« oder die Welturaufführung von Ralph Siegels »Zeppelin«-Traum in Neuschwanstein.
Dieter Semmelmann ist denn wohl auch eher Realist als Pessimist, wenn der Geschäftsführer eines der größten deutschen Live Entertainment-Unternehmen feststellt: »Viele Veranstaltungen, die wir bereits ins Frühjahr 2021 verlegt haben, werden wir wohl noch ein halbes oder gar ein weiteres Jahr verschieben müssen« – eine erste Musical-Tournee plant Semmel Concerts Entertainment erst wieder Ende 2021 mit Rolf Zuckowskis »Weihnachtsbäckerei«. Für 2020 rechnet der Semmel-Chef hingegen mit einem Millionenverlust – »der hoffentlich einstellig bleibt« –, sein Kollege Kokemüller gar mit einer zweistelligen Millionensumme. Und für die festen Musicaltheater der Stage wie auch der Mehr-BB-Entertainment summieren sich die Mindereinnahmen ob der andauernden Spielpause rasch auf einen dreistelligen Millionenbetrag.
Kein Wunder, dass angesichts des »Berufs- und Aufführungsverbots« nicht nur Klokow – er betreibt neben Hamburg noch den Berliner Admiralspalast, das Düsseldorfer Capitol, das Starlight Express Theater in Bochum sowie den Musical Dome in Köln – mit der Politik hadert: Denn deren Aufmerksamkeit wie auch die Hilfsmaßnahmen richten sich vor allem auf die klassischen Kulturbereiche. Ja, für viele Politiker scheint die Großmusical-Branche eher eine »Terra incognita«, deren Finanzierung ihnen ebenso wenig vertraut ist wie deren Wertschöpfungskette.
Gerade in Musical-Städten wie Hamburg oder Stuttgart sorgen die Show-Besucher alljährlich für Hunderttausende Übernachtungen sowie Einnahmen von Hunderten Millionen Euro in Gastronomie, Hotellerie und Städtetourismus. Doch während an der Elbe in den Konzertsälen der Elbphilharmonie vor dem erneuten Lockdown die Lichter wieder an waren, sah und sieht es auf der gegenüberliegenden Uferseite weiterhin düster aus.
»Wir brauchen dringend eine Perspektive, um die Zukunft planen zu können«, fordert Semmelmann von der Politik klare Ansagen hinsichtlich wirtschaftlich tragfähiger (Musical-)Veranstaltungen. Zumal die Herausforderungen an die Branche auch bei konkreten zeitlichen Planungsvorgaben groß genug blieben – die kleinste scheint dabei derzeit noch die Frage des Abstands der Darsteller untereinander: So hat die SE in Hamburg mit Gesundheitsbehörde und Berufsgenossenschaft bereits einen Weg gefunden, ohne die Musicals uminszenieren zu müssen.
Eine Minute vor zwölf
Voraussetzung ist ein (im Falle des Marktführers bereits vorhandenes) gutes Lüftungssystem, alle Künstler würden zweimal die Woche auf SARS-CoV-2 getestet, zudem bestünde nach jedem Bühnenabtritt Maskenpflicht – ein Konzept, für das auch die Behörden in Stuttgart und Berlin schon ihre Zustimmung für die dortigen Stage-Aufführungen gegeben haben. Das war allerdings vor dem deutlichen Anstieg der Infektionszahlen und dem erneuten Lockdown. Fraglich ist außerdem, ob und wie sich solche Vorgaben für Tourneeproduktionen realisieren ließen.
Vor allem aber: Werden auch die Zuschauer wieder in die Musicaltheater zurückkehren? »Die Menschen sind eher vorsichtig geworden, was das Eintauchen in größere Menschenmengen angeht, da gehören Kino- und Theaterbesuch mit dazu«, fürchtet Propach. Für andere wäre wiederum ein Theaterabend mit Maske undenkbar, wie die SE unter ihren Besuchern erfragt hat. Vor allem aber: Wo bleibt die Musical-typische Stimmung, wenn das Publikum still auf seinen Plätzen sitzen muss, weder bei mitreißenden Nummern aufspringen und mitsingen, noch im Finale ausgelassen in den Reihen tanzen darf? Klokows Branchendiagnose ist denn auch mehr als ein musiktheatralischer Hilfeschrei: »Für uns ist es nicht mehr fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf!« (GEA)