MELCHINGEN. Da erfährt einer, dass er eine Hütte hat, zum ersten Mal im Leben. Die Hütte steht auf dem Schinderwasen, und sie steht für Heimat, und die entdeckt er nun. Als nächstes erfährt er, dass die Hütte ihm nur halb gehört. Irgendein reicher, unleidlicher, ganz und gar nicht gesprächsbereiter Herr hat das sehr große Nachbargrundstück erworben und festgestellt, dass das kleine Hüttchen des Heimkehrers zur Hälfte darauf steht. Was nun beginnt, ist ein absurder und ein scheinbar auswegloser Kampf gegen Behörden und Bürokraten: »Echte Dorfpolitik!«
»Halbe Hütte«, das neue Stück am Theater Lindenhof, könnte großes Identifikationspotenzial für ein ländliches Publikum besitzen, denn die Hütte – man erfährt das auch im Stück – ist dem Schwaben heilig, und um Stückchen Land wird hier gerne und erbittert gezankt. Aber »Halbe Hütte« ist mehr als ein Dorfschwank. Regisseurin Edith Ehrhardt bringt mit ihrer »modernen Farce« einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2018 nahezu dialoggetreu auf die Bühne. Dort entwickelt sich das Stück, dank der überschäumenden Spielfreude und dem Einfallsreichtum des Ensembles, zu einem sehr unterhaltsamen Rundumschlag durch ländliche Befindlichkeiten und Klischees, vollgepackt mit kuriosen Gestalten, die sämtlich von denselben Schauspielern dargestellt werden.
Filmemacher wird Hüttenbesitzer
Nur Luca Zahn in der Rolle des Andreas darf über den ganzen Abend hin derselbe bleiben. Andreas Geiger, Filmemacher an der Stuttgarter März-Akademie, ist sein reales Vorbild. Geiger, eher Stadtmensch bis dahin, erbte eine Wiese bei Donzdorf unweit Göppingen, und alles, was sich dann noch zutrug, ist Satire und reine Wahrheit zugleich. Luca Zahn steht auf der Bühne, Lederjacke und Hoodie, schaut freudig irritiert drein, als er entdeckt, dass er eine Heimat hat, die bewohnt wird von Gestalten, die man so wohl kaum erfinden kann.
Sehr eng an die Dialoge des Films, verrät Edith Ehrhardt im Programmheft, habe sie sich gehalten: »Den ganzen Sprachduktus fand ich toll.« Um ihn zu bewahren, nahm sie die eine oder andere Länge in Kauf. Behördengänge, Gespräche mit Bauamtsleitern und Anwälten sind nicht berühmt für ihren Unterhaltungswert. Das Melchinger Ensemble geht mit komödiantischem Furor gegen diese Leere an – und siegt. Hannah im Hof, Linda Schlepps, Berthold Biesinger und Rino Hosennen spielen jeweils sieben bis neun Rollen, wechseln beständig die Kostüme, Gesichter, musizieren, lassen mit gelegentlichem Gackern, Schnauben, Krähen höchst agil den Rest der Dorfbevölkerung auftreten.
Nicht ohne Laugenbrezel
Und alle sprechen sie auf ihre eigene Weise, sind ganz authentisch. Selbst den Freejazzer, in einer Hütte versteckt, Sohn des Kirchenmusikers, soll es geben in Donzdorf. Eine Tür schlägt auf und Berthold Biesinger steckt den Kopf heraus, bewaffnet mit einer brüllenden Klarinette. Biesinger ist außerdem der Sommer Helmut, der Alleswisser Gernot und der Bürgermeister – wer ihn bestechen will, muss nur mit der Laugenbrezel winken.
Julia Klomfaß erdachte die Musik des Stücks, die auch sehr volkstümlich wirken kann. Barbara Fumian schuf Bühne und Kostüme, stattete die Schauspieler mit Hemden, Trachtenjacken, Westen, Hüten aus. Der graue Strick-Jumpsuit mit Zopfmuster, in dem Rino Hosennen umhergeht, ist preisverdächtig. Hosennens Auftritt als Dorfpfarrrer nicht minder: »Friede sei mir dir!«
Der Postbote klappert
Die Hütte, um die es geht, wird vom Ensemble mit vereinten Kräften auf die Bühne gezerrt, ein hölzerner Rohbau. Die Bühnenwände sind umseitig im Heimwerkerstil mit Holz verkleidet. Sie besitzen viele Türen, Klappen, aus denen kurz und knapp der Postbote hervorschaut, Aktenberge auf die Bühne kippen, Anwälte hervorgeschossen kommen, Landvermesser erscheinen.
Der Landbesitzer von nebenan, der die kleine Hütte vernichten will, existiert natürlich ebenfalls. Alle Personen, die in Film und Stück auftreten, sind benannt wie im wahren Leben, nur wenn vom Nachbarn die Rede ist, stößt jeder Schauspieler einen diskreten Pfeifton aus. Zur Rettung der Hütte schreitet zuletzt ein wahrer Künstler, der Stuttgarter Bildhauer Thomas Putze – denn eine Gesetzeslücke tut sich auf: Wird die Hütte zum Kunstwerk deklariert, ist sie über jeden Anspruch erhaben. Putze füllte die Hütte mit seinen hölzernen Sägefiguren – seither steht sie da, in Donzdorf, von der Kunstfreiheit gedeckt. (GEA)