REUTLINGEN. Eine gute Jazzband lebt von spontanen Interaktionen, vom einhelligen Baden im Rhythmus, vom gemeinsamen Fließen, Swingen und Fühlen. Die Jazz-Organistin Barbara Dennerlein bringt diesbezüglich einen großen Erfahrungsschatz mit, den sie in ganz besonderer Weise einzusetzen weiß. Allein an der Kirchenorgel sitzend, konstruiert sie vor dem inneren Auge der Zuhörerinnen und Zuhörer eine ganze Band. Der Auftakt des Reutlinger Orgelsommers (nach dem Familienkonzert) versorgte die voll besetzte Marienkirche am Samstagabend mit diesem besonderen Geschenk.
Wenn Barbara Dennerlein an der Orgel loslegt, klingt vieles improvisiert. Eine Jazzband blüht auf, man hört, wie gemeinsam gestaltet wird, wie ein Instrument das andere ablöst, wie sie sich wieder verzahnen oder einander Raum zum freien Gestalten lassen.
Solche Assoziationen werden ausgelöst, wenn die sympathische Musikerin allein an der Orgel thront und ihre Eigenkompositionen wiedergibt. Und selbst wenn vier Kameras ihre Pedalarbeit, das Gesicht und die Hände aus zwei unterschiedlichen Positionen auf mehreren im Raum verteilten Leinwänden sichtbar machen, entstehen diese inneren Bilder. Ihre Soli auf dem Pedal lassen etwa den Kontrabassisten erblühen, und vor diesem Hintergrund nennt Dennerlein die Orgelregister ihr »Orchester«.
Erlösung in einem Cluster
Durch derlei eingestreute Kommentare, Erläuterungen ihrer Kompositionen oder Exkurse in den Bereich des Orgelaufbaus entstand eine große Nähe zum Publikum, und das von ihr genannte »erhabene Gefühl«, das sie immer wieder bei ihrer Vorbereitung im Kirchenraum erfüllt, berührte auch die Zuhörer, wenngleich auch im Sinne einer unbekümmerten Dignität. Diese Stimmung war auch von ihrem Gesicht abzulesen, das in natürlichster Weise Enthusiasmus, Heiterkeit und Passion widerspiegelte.
»Heiße Rhythmen« begeistern Dennerlein, wie in ihrem lateinamerikanisch angehauchten Calypso »Just Like This«, wobei sich die Orgel beziehungsweise der Kirchenraum keineswegs als zu träge erweist, wie Dennerlein andeutet (auch schnelle Toccaten haben schließlich ihre Wirkung).
Mit Rhythmen zu spielen versteht sie ausgezeichnet. In »Corean Smile« ist nicht nur das ausgiebige Lächeln der Koreaner verewigt, sondern hier wird munter zwischen einem 10/8- und 12/8-Takt gewechselt. Nach den asiatisch klingenden Quarten zu Beginn strömt es dahin, Klangfarben wechseln, ein Pedalmotiv läuft wie ein Ostinato durch, während sich Läufe in den Händen festhaken, sich wieder lösen, hinauf und hinunter klettern und in einem Cluster Erlösung finden, das mit dem ganzen Unterarm erzeugt wird.
Neben ihrem »Tango perdido«, wo sie sich eindrücklich in Klang, Rhythmus und im innerlichen Tanz verliert, findet sie auch immer wieder zu einem Blues zurück, der ihr als Form sehr am Herzen liegt.
Brodelnder Hexenkessel
Ihr Kulminationspunkt jedoch ist »New York Impressions«, worin sie den gesamten »brodelnden Hexenkessel« ihrer New Yorker Jazzerinnerungen eingraviert. Leise, beinahe wehmütig ist der Beginn, mit liegendem, brummigen Basston, schwebenden atmosphärischen Klängen dazu und einer allmählich sich bildenden funky Melodie. Irgendwann dann die erstaunliche Wende ins Kirchlich-Ernste. Bachsche Musik klingt an, rhythmisch und harmonisch verändert, bis sie ganz greifbar ist: die d-Moll-Toccata. Welch eine ausgelassene, verblüffende und fabelhafte Angelegenheit!
Auch in der Zugabe der gebürtigen Münchnerin kann man dieses Spiel mit Bekanntem bestaunen. »Weißt du, wie viel Sternlein stehen«, in jazzige Harmonien gekleidet, mit Zwischenspiel und allerlei Kniffen versehen, entlässt die stürmisch begeisterten Zuhörerinnen und Zuhörer in eine laue Sommernacht. Wer will, kann noch für ein persönliches Gespräch mit der Künstlerin bleiben. (GEA)