REUTLINGEN. Graue Stunden, Leere, Einförmigkeit – all dies lässt sich gut mit Alkohol füllen und zugleich hinwegschwemmen. Die Monotonie des Saufens. So beginnt das vierte Ein-Personen-Stück im gegenwärtigen Monospektakel-Festival an der Tonne. Henning Bormann ist der Schauspieler, der sich Venedikt Erofeevs »Moskau-Petuski« ausliefert und dafür am Schluss einen kräftigen und langen Applaus erntet.
Zu Beginn steht der Kreislauf des ewigen Trinkens, aus dem der Protagonist Venja nicht mehr raus kann und will. Er möchte lieber unten bleiben und auf die soziale Leiter spucken. Dieser Kreislauf korreliert mit der Irrfahrt, die ihn wieder am Anfangsort seiner Zugreise ausspuckt. Das weißäugige Mädchen wird nie erreicht und das permanente Nachsinnen über den eigenen Alkoholkonsum wird zunehmend von anderen tiefgreifenden Grübeleien abgelöst.
Wenn Bormann über Einsamkeit oder aufschreiend darüber spricht, dass man versuchen müsse, noch weitere 30 Jahre zu leben, dann spricht daraus die reine Verzweiflung. Lachen möchte man schon lange nicht mehr über seine scheinbar feucht-fröhlichen Zechereien. Denn Bormanns Gesicht lässt überaus viel durchscheinen. Mit schmalen, müden Augen ist er zumeist ohne viel Enthusiasmus und mit glasigem Blick dann ganz erbarmungslos der Trunkenbold.
In musikuntermalten Passagen spricht oft jede Seelenregung aus seinem Gesicht. Wenn er beispielsweise ein irres Lachen auspresst und gleichzeitig krampfhaft weint, dann zeigt sich darin die ganze bittere Niedergeschlagenheit, die tiefen Abgründe des Seins.
Irgendwann kippt das Stück dann immer mehr, es driftet gleichsam ab. Stichworte wie »Schwärze, Finsternis, Tränen« fallen und auch immer wieder das Thema Alkohol. Wirre Wahnvorstellungen lösen die bisherige halbwegs klare Gedankenwelt ab. Aus dem lässigen Sich-Treiben-Lassen wird Angst, Panik, Kontrollverlust, ein Sich-Verlieren: »Was ist mit mir? Wo bin ich?« Wenn es zuvor noch okay war, sich ein bisschen von der Welt zu entfernen, endet es nun in einem seelischen Fiasko. Bormann bäumt sich in seiner Gestalt auf und das Schauspiel bleibt aufpeitschend bis zum fulminanten Ende, wo ihn vier Gestalten bis zur Bewusstlosigkeit misshandeln. Eindrücklich formt er seinen Venja, rennt um sein Leben, schreit und lässt seine Figur dahinscheiden, ohne die Welt angenommen zu haben. Die Anspielungen auf ein jesusgleiches Ende gipfeln im Ruf, warum Gott ihn verlassen habe. Die Engel lachen, Gott schweigt.
Und immer wieder diese kleinen Gesten und die Regungen im Gesicht, welche bei Bormann so vieles aussagen. Es braucht tatsächlich nicht viel, um Erofeevs Roman umzusetzen: Ein Mann genügt für diese Reise ins Innere. Auch die Bühne bleibt karg. Marianna Wist (Bühnenbild) vertraut auf eine Leiter, ein Stühlchen und einen mächtigen Tisch. Hiermit ist die sowjetische Tristesse einschneidend dokumentiert und ein Stück ausgehändigt, das durchaus konkurrenzfähig ist! (vara)
