ESSLINGEN. Apokalyptische Musik hallt über den Esslinger Stadtpark Maille, Wassermassen regnen aus einem Gartenschlauch, Nebel wallen und ein riesiger Elefant röhrt. Das einzige, was wir nicht sehen in dieser Freiluft-Adaption des Gruselromans »Frankenstein«, ist das berühmte, aus Leichenteilen zusammengenähte Monster. Denn zum Monster wird die Autorin selbst: Mary Shelley steht im Mittelpunkt dieses Theaterabends der Württembergischen Landesbühne, und mit ihr die Ereignisse im Sommer 1816, als in einer Villa über dem Genfer See ihr Roman »Frankenstein oder der moderne Prometheus« entstand.
Es ist ein exzentrisches Häufchen, dessen Ankunft den entsetzten Villenvermieter verschreckt: der Dichter Lord Byron, opiumsüchtig und mit schwulen Tendenzen zu seinem Leibarzt John Polidori, der Lyriker Percy Shelley und zwei viel zu selbstbewusste junge Frauen. Aufgrund des schlechten Wetters – im Vorjahr hatte ein indonesischer Vulkan so viel Asche in die Atmosphäre geschleudert, dass es jahrelange Missernten gab – fällt der Sommer aus, die intellektuellen Briten vertreiben sich die Zeit mit Spielen, lesen Schauergeschichten – und erfinden schließlich selbst welche. So entsteht »Frankenstein«.
Wer ist des Menschen Monster?
Die erst 18-jährige Schriftstellerin verarbeitet darin, so die These von Alexander Schreuder, dem Autor der Esslinger Adaption, sowohl eine kürzliche Totgeburt wie auch die Geschichte ihrer Mutter, einer der ersten Feministinnen. Obwohl schon lange tot, eröffnet diese Mary Wollstonecraft in der resoluten Gestalt der Schauspielerin Elif Veyisoglu den Abend mit einer Tirade gegen die Männer, in der damaligen Zeit sicher berechtigt. Obwohl sich hier bald alle gegenseitig an die Gurgel gehen.
Wer ist des Menschen Monster, wer ist wessen Geschöpf? So lauten die zentralen Fragen: Kommen die Monster bereits aus dem Bauch, nähren sich vom Fleisch ihrer Mütter und werden nachher von ihnen verfolgt? Warum wird Mary zum Monster, das ihre eigenen, fiktiven Figuren quält? Darstellerin Eva Dorlaß macht das großartig: Allein durch ihre krumme Haltung mutiert sie von der stillen Außenseiterin zum beängstigenden Wesen, das seinen Schöpfer Victor Frankenstein verfolgt. Den spielt Reyniel Ostermann als gehetzten Forscher, dem sein ganzes Leben durch eine einzige, grenzüberschreitende Tat unter den Händen zerbricht.
Märchenhaft-surreale Inszenierung
Für Lord Byron ist das alles nur ein Spiel – Markus Michalski macht ihn zum ironisch-abgeklärten Doyen. Kim Patrick Biele ist als nervöser Leibarzt eine Art literarischer Underdog, Niklas Schmidt-Kosik bleibt als Percy Shelley ein blässlicher Liebhaber und muss sich am Ende arg plötzlich zum Macho wandeln, der den Roman seiner späteren Frau Mary unbedingt unter seinem Namen veröffentlichen will. Geradezu amazonenhaft unabhängig porträtiert Claire Hordijk Marys Stiefschwester, die vom Lord schwanger ist.
Für die komischen Elemente sorgt vor allem Alessandro Scheuerer als steifer Vermieter; der Autor lässt ihn und die eintreffenden Dichter das Spiel mit skurril ausgesprochenen Namen ermüdend lange treiben. Wie es überhaupt mit einer Dreiviertelstunde recht lang dauert, bis man endlich mal bei »Frankenstein« ankommt. Dann aber wird’s wirklich spannend, wofür vor allem Eva Lemaire mit ihrer bewegungsintensiven, immer wieder ins Märchenhaft-Surreale abhebenden Regie sorgt.
Aufführungsinfos
Weitere Aufführungen sind am 20., 21., 22., 26. und 27. Juni sowie am 1., 3., 8., 9., 11. bis 13., 17. bis 19., 20. sowie vom 22. bis 26. Juli im Stadtpark Maille in Esslingen. (GEA)
www.wlb-esslingen.de.
0711 968 804 110
Wie ein Riesenwurm windet sich eine schmutzigweiße Plane ums Treppengeländer von der Brücke herab; immer wieder tauchen Menschen und Monster daraus auf. Die Ausstatterinnen Nora Johanna Gromer und Miriam Brunnert haben feine historische Kostüme entworfen; Moritz Finn Kleffmann steuert eine ungemein atmosphärische Musik bei; Lord Byron darf ab und zu einen Song von Rufus Wainwright anstimmen. Ein kleiner Kinderelefant lässt zum Schluss den großen Elefanten mit seinen traurigen Augen von der Leine: »Frankenstein« ist in der Welt – und die fantastische Literatur ist geboren. (GEA)