TÜBINGEN. Von jeher wird über die Frage reflektiert, wie man Musik richtig interpretieren sollte. Auch Alfred Brendel und Peter Gülke sind dieser Frage auf den Grund gegangen. In dem gemeinsamen Buch »Die Kunst des Interpretierens« haben diese zwei musikalischen und sprachlich reflektierenden Größen einen Ideenaustausch betrieben, der am Dienstagnachmittag als 9. Emil-Kauffmann-Vorlesung im Tübinger Pfleghofsaal nochmals als Diskussion aktiviert hätte werden sollen. Da Gülke aus gesundheitlichen Gründen leider nicht zugegen sein konnte, hatte Alfred Brendel eigenständig ein Stündchen voller Gedanken zum Thema »Naivität und Ironie – Goethes musikalische Bedürfnisse« mitgebracht.
Eine Stunde strukturiertes Nachsinnen mit einem breit gespannten Bogen, gewürzt mit Brendels Weitblick, aber auch mit Witz. Abgewinnen konnten die Zuhörer dem stoischen Gesicht und der beherrschten Stimme Brendels in der Tat so einiges. Auch wenn es in diesem Zeitrahmen nicht möglich war, auf jegliche musikalische Belange in Goethes Leben einzugehen, wurden dennoch interessante Aspekte aufgegriffen. Zunächst die These von Goethes Widersprüchlichkeit, gut umfasst in dem Wertigkeitspaar »Ironie und Naivität«.
Goethe und Zelter haben eben diese Merkmale als die des wahren Genies bescheinigt, welche sie Haydn zuschrieben. Freilich steckt auch Goethe selbst voller Gegensätze, die ausbalanciert werden wollten und eine spannende Persönlichkeit offenlegen.
Das Dämonische der Tonkunst
Doch welches Verhältnis zur Musik spricht Brendel Goethe nun zu? Zunächst ließ er Zitate sprechen, aus welchen herauszulesen ist, dass Goethe der Tonkunst »geradezu dämonische Qualitäten« bescheinigt. Doch ganz so leicht ist es nicht bei Goethe. Aus der Musik entspringt für ihn jede Dichtung, das ja. Indes ist sein Radius nicht der größte.
Dass die Verbindung von Musik und Sprache ihm als die wahre Musik erscheinen, ist nicht verwunderlich bei diesem Sprachkünstler. Und doch steht damit ein großer Teil für ihn hinten an: die Instrumentalmusik. Und dass selbst die Vokalmusik sich für Goethe am besten in einem eng gegriffenen Rahmen aufhalten soll, hat Brendel gut beleuchtet. Hier sieht Brendel eine große Zwiespältigkeit in Goethes Persönlichkeit.
Um noch mehr ins Konkrete hineinzugehen, umriss er das Verhältnis Goethes zu einigen Komponisten. Knappe Einblicke in Freundschaften, Bekanntschaften, Begeisterung oder Ablehnungen, verbunden mit einigen Stationen in Goethes Leben gab es da. Was einen Abriss darüber zuließ, dass Goethes Lyrik, aber auch seine Prosa – auch angesichts ihrer unterschwelligen Musikalität – bemerkenswert viele Vertonungen hervorriefen.
Interesse am Ursprung der Musik
Der letzte Punkt in Brendels Abhandlung betraf Goethes Interesse an den Ursprüngen der Musik und seine Umrisse einer Tonlehre und der ausgewogenen Polarität zwischen Dur und Moll. Die Ausgewogenheit von Polaritäten also als wichtiger Aspekt, nicht nur was Naivität und Ironie betrifft.
Auch wenn Brendel Goethe als Persönlichkeit darstellt, die in ihrem eigenen Wortklang gefangen ist, lässt er seinen Vortrag mit einem wunderschönen, ausdrucksstarken Gedicht Goethes enden, »Aussöhnung«, wo die Musik Leiden fortwischt und »das Doppel-Glück der Töne wie der Liebe« entstehen lässt. (GEA)