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Der traurige Traum vom größeren Leben auf der Bühne in Tübingen

Hochstaplerin oder Träumerin? Lisette Holdack im Stück »Making Of« am Tübinger Zimmertheater.

Lisette Holdack lässt die Figur im Stück »Making Of« lebhaft und facettenreich entstehen.
Lisette Holdack lässt die Figur im Stück »Making Of« lebhaft und facettenreich entstehen. FOTO: ZIMMERTHEATER
Lisette Holdack lässt die Figur im Stück »Making Of« lebhaft und facettenreich entstehen. FOTO: ZIMMERTHEATER

TÜBINGEN. »Boss Bitch« – das steht auf ihrer Tasse. Wer möchte nicht gerne Boss sein? Hochstapler sind fraglos faszinierende Persönlichkeiten. Vielleicht rührt es daher, dass in jedem ein wenig Hochstapler steckt, dass jene, die sich der Hochstapelei schuldig machen – bei ihr ertappt werden – eigentlich die Träume vieler leben, ganz so, wie es mitunter Schauspieler tun. Und vielleicht liegt die Tragik, die dem überführten Hochstapler innewohnt, in der Übererfüllung eines geheimen gesellschaftlichen Konsens, nach dem jeder sich größer zu machen, seine Schwächen zu kaschieren, zu täuschen hat? Sind vielleicht die Hochstapler, die Hochstaplerinnen in Wirklichkeit die unschuldigeren Träumer?

Im Zimmertheater Tübingen ist es eine Hochstaplerin, die fasziniert, Lisette H., die verurteilt wurde zu fünf Jahren Haft, die sie nun, auf eigenen Wunsch, in der glamourösen Strafvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim absitzt, fast schon eine Terroristin also und eine ganz und gar fiktive dazu. Lisette Holdack, real existierende Schauspielerin, spielt diese schillernde Projektionsfläche, spielt auch Mia, das Opfer der Betrügerin, in »Making Of«, dem neuen Stück des Zimmertheaters, verfasst von Regisseurin Charlotte Lorenz (Mitarbeit am Text: Jakob D’Aprile). Ihre Bühne (Charlotte Lorenz und Josefin Kwon) ist Künstlergarderobe, ein Schminkzimmer, mit schwarz-weiß getäfeltem Boden, Kerzen, Plüsch, einem kleinen Heiligenschein, künstlich leuchtend über dem gerahmten Porträt der Künstlerin, und einer Toilettenschüssel.

Maske unter jedem Stuhl

Lisette Holdack wandelt sich auf erstaunliche Weise, will Mia sein, die erfolgreiche Unternehmerin, spielt mal im leuchtend roten Abendkleid, mal in der Anstaltskleidung, Handschellen an den Händen, wirft mit Blicken um sich, aus denen die Gier nach Anerkennung spricht, Sichtbarkeit und Geltung, kokett und verzweifelt, beschmiert sich das Gesicht mit allen Lieblingsprodukten der Kosmetikindustrie, um endlich eine andere zu sein. Wunschbild und Wirklichkeit werden ununterscheidbar, beide gezeigt von derselben Darstellerin. Es geht so weit, dass die eine – die Echte? – sich von der anderen kompromittiert fühlt: »Was machst du da? Du blamierst mich!«

Die »Boss Bitch« war für Lisette ein Ideal – »begehrenswert, intelligent, talentiert, charmant, humorvoll« – für Mia als Attitüde nur das Mittel zum Zweck. Desillusionierung: »Du bist gar keine Boss Bitch. Du bist bloß ein gewöhnlicher Boss, der rücksichtslos nach oben will.« Realfälle kommen immer wieder zur Sprache, es gibt sie zur Genüge – nicht nur Cassie Chadwick, die 1907 50-jährig im Gefängnis starb, nachdem sie sich als die uneheliche Tochter Andrew Carnegies ausgegeben hatte. »Seine Milliarden verdiente der reichste Mann der USA, indem er seine Arbeiter unter prekären Bedingungen schuften ließ.«

Was ist gut und was ist böse, wo beginnt der Trug? Selbst Mia, die erfolgreiche Unternehmerin, deren Leben Lisette sich aneignete, zweifelt an sich selbst. »In mir nagt der tiefsitzende Verdacht, dass alles, was ich über mich zu wissen meine, falsch sein könnte.« Charmant, humorvoll, talentiert ist zuletzt nur die Betrügerin – eine Schauspielerin, die von einer Schauspielerin gespielt wird, funkelnd, wild und wütend, temperamentvoll und verloren.

Dass die Figur des Hochstaplers ein immens subversives Potenzial besitzt – das ist nicht neu. Lisette Holdack lässt diese Figur lebhaft und facettenreich entstehen. Zwischendurch darf das Publikum entdecken, dass unter jedem Stuhl eine Maske liegt; es darf diese Masken aufsetzen, sie sogar mitnehmen, um, vielleicht, in den Straßen Tübingens oder anderswo mit ihnen umherzugehen. (GEA)