REUTLINGEN. Die Welt ist aus den Fugen. Das Klima entgleist, die Pandemie grassiert – nun tobt auch noch Krieg in Europa. Auch durch die Schau »Kunst Reutlingen« weht der Hauch der Krisen. Oft hintergründig, oft subtil verarbeitet.
Oer als virtuose Farbschlacht in Rosa wie bei Friederike Just: Der Tod greift nach der jungen Frau. Erinnert er mit seinem Babyface nicht an Wladimir Putin und seinen Griff nach der Ukraine? Das Bild ist 2020 entstanden – und doch passt es.

Knapp 80 Werke von 57 Künstlern sind von diesem Samstag an bis 6. Juni in zwei Etagen der Wandel-Hallen zu bewundern: beim Kunstverein im ersten Stock und in der Kunstmuseums-Galerie im Kellergeschoss. 134 Künstler haben Werke eingereicht, Voraussetzung war Wohnsitz oder Atelier im Kreis Reutlingen. Die Auswahl trafen Melanie Ardjah von der Kunsthalle Göppingen, Martin Schick von der Galerie der Stadt Backnang, Romy Range vom Künstlerhaus Stuttgart, Kunstvereinsleiterin Imke Kannegießer und der stellvertretende Leiter des Kunstmuseums Reutlingen, Johannes Krause-Schenk.
Ökologisches in der Galerie
Die Altersspanne der Künstler reicht von 19 bis über 90 Jahre, eine Reihe junger Talente ist dabei, die an der Stuttgarter Akademie oder an der Reutlinger Hochschule studieren. Es gibt Installationen, Plastik, Malerei, Zeichnung, Fotografie, Druckgrafik. Fehlanzeige bei Video- oder Lichtkunst, da gab es offenbar auch keine Bewerbungen. Vereinzelt bewarben sich Performanckünstler, deren Ansätze aber diesmal nicht in die Schau passten.
Aus der Vielfalt haben die beiden Kuratoren Erzählstränge gewoben: Krause-Schenk im Kellergeschoss, Kannegießer im Kunstverein. Im Untergeschoss stößt man auf das Thema Ökologie. Markus Wilke inszeniert den Abfall der Gesellschaft als bildstarkes Thema seiner Malerei. Bei Steffen Lawall wird Ausgemustertes zur Skulptur: 1.000 Aktenordnerspanner stapelt er zum »Wolkenkratzer«.
AUSSTELLUNGSINFO
In der Ausstellung »Kunst Reutlingen« sind von 2. April bis 6. Juni im Kunstverein Reutlingen und im Kunstmuseum Reutlingen/Galerie in den Wandel-Hallen, Eberhard-Straße 14 in Reutlingen, Arbeiten von 57 Künstlerinnen und Künstlern zu sehen, die im Kreis Reutlingen leben und/oder arbeiten.
Der Eintritt ist frei. Eröffnung ist diesen Freitag, 1. April, um 18 Uhr. Geöffnet ist Mittwoch, Samstag, Sonn- und Feiertage 11 bis 18 Uhr, Donnerstag und Freitag 14 bis 20 Uhr. Karfreitag ist geschlossen.
Andere beschwören das Leben auf dem Planeten in all seiner Zerbrechlichkeit. Regine Krupp-Mez etwa mit ihrer Serie aus Ölskizzen beschnittener Obstbäume. Heidi Degenhardt mit ihren »Zellkulturen« aus hauchdünnem, durchscheinendem Porzellan.
Gleich zwei setzen Naturmagie durch Fotoüberlagerung frei: Wolf Nkole Helzle in der Panoramasicht der Alb, Christina Dohms im Nahblick auf die Quelle der Falkensteiner Höhle. Bei Jutta Vollmer wird aus winzigen Blättern und Samenkapseln ein Miniatur-Biotop kleinster Assemblagen.
Einen schwarzbräunlichen Fleck wie ausgelaufenes Altöl breitet Elisa Lohmüller auf dem Boden aus, eine der Jüngsten im Feld. Die Verseuchung des Planeten scheint auf in ihrer Schicht aus Glycerin, Essig, Pigment, Stärke und Wasser – und bekommt beim Trocknen durch lineare Rissbildung eine eigene Ästhetik. Die Philosophie dazu liefert Eckart Hahn: Seine segnende Hand ist fein befiedert – Hinweis darauf, dass sich die Schützende Kraft des Göttlichen auch über die Natur mit ihren Kreaturen erstreckt.
Vernetztes im Kunstverein
Oben im Kunstverein stößt man als erstes auf die ausdrucksstark reduzierten Figuren in der Malerei Josef Wickers, einem inklusiven Künstler, der in der Bruderhausdiakonie in Buttenhausen arbeitet. Kann man in seinem nackten Mann auf dem Pferd nicht auch einen apokalyptischen Reiter sehen bei all den Krisen?
Gleich daneben hat Yvonne Kendall ein Starkregenereignis visualisiert: Bei ihr schweben Zinkeimer und Zinkwanne unter der Decke, aus denen es Wollfäden regnet wie im Wolkenbruch.
Weiter zu einem Bereich mit Kunstwerken, die Netzwerke thematisieren: die gefährdete Natur als das ewig Verwobene. Etwa in den Installationen Michaela Ruhrmanns, der Textilarbeit von Ellen Øyan, den Fotografien Kathrin Fastnachts, der Malerei Birgit Krins-Gudats. Andere thematisieren das Unbehagen am modernen Sein. Wolfgang Fritz etwa, indem der Kindheitsobjekte zu surrealen Schreinen gruppiert.
Oder Helm Zirkelbach, indem er schwarze »Chromosomenmuster« in Holzplatten fräst. Susanne Dohm-Sauter windet aufgewickelte Plastiktüten zur DNA-Doppelhelix. Hat der Kunststoff bereits unser Erbgut erfasst?
Beate Hölscher macht in Papiercollagen greifbar, wie der Ukrainekrieg ein Land, Familien, Bindungen zerreißt. In Henning Eichingers »Horror Vacui IV« stürzt die Welt mit allen ihren Elementen in einem fast schon ornamentalen Chaos zusammen. Und dann ist man wieder bei Friederike Just und ihrem Tod in Rosa, der das Mädchen packt. »Morgenröte« hat sie das Bild genannt. Vielleicht gibt es ja eine solche auch nach all den Krisen. (GEA)