REUTLINGEN. Da steht er, Wilhelm der Schreiber, kein Förster, kein Waldmann, sondern einer, der die Flinte kaum gerade halten kann. Ausgerechnet er hat sich in die Tochter des Försters verliebt, und sie sich in ihn, die beiden wollen heiraten. Der Tag, an dem der Schreibtischtäter sich beim Schießen endgültig behaupten muss, um das Käthchen ganz für sich zu gewinnen, rückt näher. Ein Wunder geschieht: Plötzlich trifft jede Kugel, die Wilhelm abfeuert, unweigerlich ihr Ziel. Mit rechten Dingen geht es nicht zu. Die Kugeln, mit denen Wilhelm schießt, hat er vom Teufel. Und eine dieser Kugeln gehört dem Stelzfuß immer noch. Sie wird kein Glück bringen für Wilhelm, den Schreiber.
»The Black Rider« ist die Adaption einer Volkssage, die auch Carl Maria von Webers Oper »Der Freischütz« zugrunde liegt. Die sehr skurrile, komisch-morbide Version, die Regisseur Robert Wilson, Beat-Dichter William S. Burroughs und Musiker Tom Waits gemeinsam schufen, erlebte ihre Uraufführung 1990 am Thalia Theater Hamburg und wurde zu einem der erfolgreichsten Bühnenstücke des Jahrzehnts. Viele weitere Inszenierungen folgten, weltweit; auch das Landestheater Tübingen führte den »Black Rider« lange im Repertoire. Nun hat die Tonne in Reutlingen das schwarzromantische Musical inszeniert und setzt dabei nicht auf große Szenarien, Effekte, sondern ganz auf die Stimmen, die Mimik, die Ausdruckskraft ihres Ensembles. Entstanden ist ein sehr eigenwilliges, gelungenes Bühnenerlebnis, ein finsteres Märchen, das das Publikum in seinen Bann zieht.
Der Wald ist eine Kiste
Elizaweta Veprinskaja hat die Bühne gestaltet in der Art eines Schaukastens, überaus schlicht in leuchtendes Grün gefasst. Die Seitenwände des Kastens erweisen sich als beweglich, klappen bei Bedarf aus, schaffen verborgene Räume, sind mit biederer Tapete bezogen. An einer solchen Wand hängt das Gewehr, flach, aus grünem Holz. Neben dem Kasten schwebt ein großer grüner Mond. Vor ihm steht schon vor Beginn des Spiels das Ensemble, von Veprinskaja fast alltäglich eingekleidet, mit Jeans und Rock und Lederjacke. Nur Wilhelm, der Hineingeschmeckte, trägt Krawatte, ein himmelblaues Jäckchen, kurze weite Stoffhosen. Der verführerische Teufel tritt zunächst noch mit blutrotem Schleier auf. Er wird sich bald zurückziehen, hinter einen halbdurchsichtigen Vorhang, eine hintergründige Präsenz, projiziert auch auf die große Mondscheibe.
Auf dem grünen Schaukasten sitzt das Orchester, geleitet von Johannes Wasikowski. Tom Waits' Musik, im Original von bizarr verzogenem Klang, gespielt von seltsamen Instrumenten, singenden Sägen, Leierkasten, gewinnt Klarheit in der Interpretation des siebenköpfigen Orchesters, besetzt mit Blech und Holz, Schlagzeug, Kontrabass, Klavier, Synthesizer, behält dabei ihren irritierenden Charakter – das Titelstück »The Black Rider« swingt diabolisch, das Ensemble tanzt, morbide Balladen, aufgekratzte Varieté-Nummern werden folgen und eine unheilvoll faszinierende Stimmung schaffen. Die Schauspieler Michael Schneider und David Liske treten abseits des Orchesters auf mit Gitarre, Banjo, Geige, Ukulele, Bilder eines zum Traumbild erstarrten Westens.
Ein Tanz der Geister
Alle Schauspieler erstarren oft zu Posen, die jedoch von bestechender Ausdruckskraft sind. Das Spiel ist eine Farce, das Schicksal nimmt unweigerlich seinen Lauf, die Akteure sind vielleicht Geister, die es ewiglich wiederholen müssen. Ihre Gesichter wirken maskenhaft, sind doch voller Leben. Michael Schneider als Bertram, Förster und Vater, steht da, ein Macho in Lederjacke, und blickt ergrimmt ins Publikum hinaus; Chrysi Taoussanis als Anne, seine Frau, die Mutter, ist ein Bündel an Energie und singt mit voller Stimme. David Liske spielt Robert, den Förster, den Käthchen heiraten soll; Magnus Pflüger ist Wilhelms Onkel, wird auch zum Autor, der sich in einer Hemingway-Parodie auf Hollywood einlässt, auf einen anderen Teufel. Richard Kipp ist Wilhelm, der unglückliche Tor, der mit seinem grünen Gewehr herumfuchtelt und sich für einen großen Schützen hält; Marlene Goksch ist das Käthchen, das so frisch und lebensfroh daherkommt und zuletzt, an der Seite des Teufels, nachdem ihr das rote Blut schon aus dem Mund rann, ein letztes wunderschönes Lied singt.
Den Teufel, Stelzfuß, spielt Jonas Breitstadt grandios als rätselhaft dekadenten Komödianten, als irrwitzigen, finsteren Narziss, der sich verbirgt oder mit spöttischem Lachen die Spieler umtanzt. Sie alle singen, mit schönen Stimmen, traurige, verrückte, sentimentale Lieder. William Burroughs, der Autor des »Black Rider«, schoss 1951 seiner Frau Joan Vollmer in den Kopf, als beide betrunken Wilhelm Tell spielten – eine Aufführung mit tödlichem Ausgang. Auf dem Theater wird aus Schrecken Schönheit – und im Theater Die Tonne vor allem wird dieses Stück, in der konzentrierten, klaren und doch enigmatischen Inszenierung von Tobias Dömer, zu einem bezaubernden Blick in den Abgrund. (GEA)