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Der nonbinäre Körper: LTT-Schauspieler lesen aus dem »Blutbuch« von Kim de l'Horizon

Im »Blutbuch« setzt sich Kim de l'Horizon mit der Entdeckung der eigenen Identität jenseits herkömmlicher Geschlechterzuschreibungen auseinander. Im Rahmen des »Pride Month« lasen LTT-Darsteller szenisch aus dem autofiktionalen Roman. Zentrales Element ist eine furiose Sexszene.

Das erzählende Ich in multipler Form: (von links) Jennifer Kornprobst, Lucas Riedle, Toni Pitschmann, Solveig Eger und Emma Scho
Das erzählende Ich in multipler Form: (von links) Jennifer Kornprobst, Lucas Riedle, Toni Pitschmann, Solveig Eger und Emma Schoepe. Foto: Armin Knauer
Das erzählende Ich in multipler Form: (von links) Jennifer Kornprobst, Lucas Riedle, Toni Pitschmann, Solveig Eger und Emma Schoepe.
Foto: Armin Knauer

TÜBINGEN. Was heißt es, wenn man sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen mag? Damit setzt sich die nonbinäre Person Kim de l'Horizon im »Blutbuch« auseinander, für den es 2022 den Deutschen Buchpreis gab. Im Rahmen des »Pride Month« brachte nun das LTT in seiner »Oben«-Bühne Teile des Romans als szenische Lesung auf die Bühne.

In der Inszenierung von Luise Leschik verteilt sich das erzählende Ich auf fünf Darsteller: Lucas Riedle, Emma Schoepe, Solveig Eger, Jennifer Kornprobst und Toni Pitschmann. Was natürlich wirkt, weil auch im Roman die Erzählinstanz in immer neue Perspektiven schlüpft. Dabei tragen sie alle, plakatives Geschlechtersymbol, sowohl rote wie blaue Kleidungsteile.

Ablösung von der Familie

Letztlich geht es darum, wie aus dem kleinen Dominik Holzer aus der Schweiz die nonbinäre Person Kim de l'Horizon wurde. Um das Ringen mit dem Ballast an Geschlechter-Zuschreibungen, der sich durch die Generationen zieht. Das alles hin- und herspringend zwischen Zeiten, Personen, Perspektiven.

Zentral sind die Großmutter und die Mutter, die ihrerseits aus den tradierten Rollen ausbrechen wollten, es aber nicht schafften. Mit wenigen Requisiten und dem Textbuch in der Hand kurven die fünf Darsteller durch die Vorlage. Ein Tisch steht dort, eine Leiter, die mal Hühnerstall, mal Blutbuche ist. Es wird mit einem Taschenmesser gespielt, von Himbeeren genascht, das Licht wechselt von Blau zu Magenta wie die Identitäten, zu denen die Erzählerperson sich gerade hingezogen fühlt.

Drang, sich zu häuten

Sie lassen das sehr lebendig werden. Diesen Drang, sich zu häuten von seiner Familie - und den damit verbundenen Geschlechterrollen gleich mit. Das ist sprachlich mal zärtlich, mal derb, mal witzige Parodie des mit Anglizismen durchsetzten Hipster-Sprechs. Rassismus und weiße Überheblichkeit kommen zur Sprache, die eigene zeitweise Existenz in der Schwulenszene wird parodiert. Und es geht um Sex, sehr explizit. Wie ein Exorzismus wirkt die zentrale Sexszene, vorgetragen von Lucas Riedle, mit der die Erzählperson ihr altes Ich förmlich absprengen will.

In nur vier Proben haben sie das erarbeitet, wie sich in der anschließenden Diskussion herausstellt, die von Gero Bauer vom Zentrum für Diversität und Genderforschung moderiert wird. Man erlebt das emotionale Bekenntnis eines Zuschauers, dass ihm seine männliche Identität mit Gewalt aufgedrückt worden sei. Und es geht um die Frage, ob ein Text, der sich so intensiv mit seiner eigenen Texthaftigkeit befasst, sinnvoll auf die Bühne zu bringen ist. An diesem Abend ist das gelungen. (GEA)