REUTLINGEN/HILDESHEIM. Mit barocker Vokalmusik hat das Ensemble Gli Scarlattisti Maßstäbe gesetzt. Nun feiert die Truppe mit Sitz im niedersächsischen Hildesheim ihr 30-jähriges Bestehen. Nicht zufällig mit einem Konzert an diesem Samstag in der Reutlinger Auferstehungskirche. Denn in Reutlingen wurde das Ensemble 1995 gegründet.
Was daran liegt, dass Gründer Jochen Arnold damals Kantor an der Reutlinger Kreuzkirche war. Parallel studierte er Kirchenmusik in Stuttgart und sang im berühmten Kammerchor von Frieder Bernius mit. Dort keimte bei ihm die Idee, etwas Eigenes zu schaffen. Er gründete einen Mini-Chor und scharte dazu Profis um sich, die sowohl solistisch wie chorisch singen konnten.
Inspiriert vom »Stabat Mater«
Weil sich nach Bach schon zu viele andere Ensembles benannt hatte, gab dessen italienischer Konkurrent Domenico Scarlatti den Namen, berühmt eigentlich für Tastenmusik. Dessen »Stabat Mater« hatte Arnold mit dem Stuttgarter Kammerchor gesungen – und sich in das Werk verliebt. Das Programm am Samstag stellt Scarlattis »Stabat Mater« Motetten Bachs gegenüber. »Es ist fast identisch mit dem Konzert, das wir damals gesungen haben«, betont Arnold.
Das Konzept war klar: Barocke Musik historisch authentisch mit einem schlanken Ensemble auf höchstem Niveau aufführen. Der Schwerpunkt verlegte sich schnell vom Spät- ins Frühbarock mit Komponisten wie Heinrich Schütz oder Claudio Monteverdi. »Wir haben gemerkt, dass uns das textbezogene Singen des Frühbarock besonders liegt«, erklärt Arnold.
Letzter Anstoß in Rom
Eine Rolle spielte auch, dass diese Musik oft stark an theologische Fragen anschließt. Die »Musikalischen Exequien« von Schütz etwa seien ursprünglich für den Weg zum Grab gedacht, so Arnold – musikalisch-theologische Meditationen über das Sterben. Arnold hat denn auch zunächst in Tübingen Evangelische Theologie studierte, setzte erst hinterher ein Kirchenmusikstudium in Stuttgart drauf.
Den letzten Anstoß dafür bekam er in Italien. In Rom absolvierte er im Rahmen eines Stipendiums einen theologischen Studienaufenthalt – und leitete nebenher einen Gemeindechor. Was ihn so anregte, dass er sich nach der Rückkehr für ein Kirchenmusikstudium bewarb.
20 Jahre in Hildesheim
Eine Doppelbegabung also. Was Arnold 2004 als Direktor ans Michaeliskloster Hildesheim führte, einem Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik der Evanglisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. 2024 wechselte er als Theologischer Dezernent nach Bielefeld. Italien bezeichnet er noch immer als seine zweite Heimat: Im Dörfchen Canino auf halber Strecke zwischen Rom und Siena hat er eine Wohnung.
Mit seinen Scarlattisti hat Arnold zum Tausend-Jahr-Jubiläum der Michaeliskirche sämtliche Bach-Motetten eingespielt. Weitere bedeutende Platten erschienen zu Händel, Hammerschmidt, Prätorius, Rosenmüller. »Im Moment warten wir darauf, dass eine Brahms-Platte herauskommt, die wir eingesungen haben«, erzählt Arnold. Plötzlich Spätromantik statt Barock? Das Projekt mit dem Brahms-Requiem in der Fassung für Klavierbegleitung sei der Wunsch seiner vor fünf Jahren gestorbenen Frau Anika gewesen, erklärt Arnold.
Komponieren als Steckenpferd
Puristisch war man ohnehin nicht immer. So hat man auch mal eine verjazzte Bach-Motette eingesungen – an dem Arrangement hat Arnold mitgeschrieben. Das Komponieren ist ein weiteres Steckenpferd von ihm. Eine Reihe von Kirchenliedern stammt aus seiner Feder.
Konzerthöhepunkte gab es reichlich in 30 Jahren. 2004 etwa das Gedenkkonzert zum 100. Geburtstag Hans Grischkats in der Reutlinger Christuskirche. Oder das Konzert zur Jahrtausendwende in der Nürnberger Sebalduskirche, das mit Musik von Vivaldi, Bach, Händel und Charpentier einen europäischen Bogen schlug. Man hat auf dem Kirchentag in Köln 2007 vor 100.000 Besuchern einen Gottesdienst umrahmt. Und war mit Händels Oratorium »Israel in Egypt« im Schweizerischen Sankt Gallen zu Gast.
Aufführungsinfo
Das Konzert mit dem »Stabat Mater« von Domenico Scarlatti und Motetten von Johann Sebastian Bach mit dem Vokalensemble Gli Scarlattisti ist am Samstag, 22. März, um 19 Uhr in der Reutlinger Auferstehungskirche. (GEA)
www.scarlattisti.de
Im Herbst soll Händels Oratorium »Solomon« folgen. »Das wollte ich immer schon machen!«, frohlockt der Ensembleleiter. Das Stück sei so groß wie der »Messias« und inhaltlich spannend: Weil es den Besuch der Königin von Saba bei König Salomon mit einbezieht – und damit ein Ereignis, das für die äthiopische Kirche zum Gründungsmythos wurde. Solche kulturellen Brückenschläge faszinieren Arnold.
Auch deshalb, weil er sich für den interreligiösen Dialog einsetzt. So wird der »Solomon« sowohl in der evangelischen Michaeliskirche wie in der katholischen Godehardkirche in Hildesheim aufgeführt werden. Parallel gibt es einen Workshop in der Hildesheimer Moschee – denn die Geschichte mit der Königin von Saba wird auch im Koran erzählt. Dass Musik Brücken schlagen kann, ist für Arnold, der zeitweise einen geflüchteten Afghanen bei sich aufnahm, kein leeres Wort. (GEA)