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Das »heilignüchterne« Ganze

Der Dichter Friedrich Hölderlin wurde vor 250 Jahren in Lauffen am Neckar geboren

Hölderlin-Skulptur des Künstlers Waldemar Schröder in  Nürtingen. FOTO: DPA
Hölderlin-Skulptur des Künstlers Waldemar Schröder in Nürtingen. FOTO: DPA
Hölderlin-Skulptur des Künstlers Waldemar Schröder in Nürtingen. FOTO: DPA

LAUFFEN. Johann Christian Friedrich Hölderlin wurde am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren, gestorben ist er am 7. Juni 1843 in Tübingen. Er zählt zu den bedeutendsten Lyrikern der deutschen Literatur. Durch Übersetzungen in viele Sprachen erreichte er den Rang eines weltweit hoch geschätzten Dichters.

Bei Gesprächen über Literatur wird Hölderlins Werk jedoch oft als schwer verständlich bezeichnet. Das mag daran liegen, dass er sich vielfach auf antike Themen bezieht. Griechische Götter, Halbgötter, mythische Vorstellungen, auch ungewohnte Sprachwendungen könnten manchen Lesern den unmittelbaren Zugang zu seinem Werk erschweren.

Bei Bemühungen, sich dem vielfältigen Werk Hölderlins zu nähern, könnte ein »kleiner« Text Zugänge zu seiner Dichtung eröffnen. Das oft zitierte und vielfach interpretierte Gedicht »Hälfte des Lebens« (1804) könnte dabei helfen.Hälfte des LebensMit gelben Birnen hänget

und voll mit wilden Rosen

das Land in den See,

ihr holden Schwäne,

und trunken von Küssen

tunkt ihr das Haupt

ins heilignüchterne Wasser.Weh mir, wo nehm’ ich, wenn

es Winter ist, die Blumen, und wo

den Sonnenschein,

und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

sprachlos und kalt, im Winde

klirren die Fahnen.Literatur nehmen wir meistens als gedruckte Texte wahr. Eindrucksvoller aber können wir sie erfahren, wenn wir sie sprechen oder sie hören, wie sie ursprünglich vermittelt wurde. Nach Goethe ist Literatur überhaupt fürs Ohr gemacht.

So lassen sich Sinnzugänge zu dem ausgewählten Gedicht »Hälfte des Lebens« beim lauten Lesen finden. Bei der Suche nach einer angemessenen Sprechmelodie können Betonung, Rhythmus und Intonation als variable Elemente ausprobiert werden. So kann man mit dem Gedicht als Klanggebilde vertraut werden, es mit Freude genießen.

»Hölderlins Werk wird oft als schwer verständlich bezeichnet«

Ob gelesen, gesprochen, gehört, eine genauere Betrachtung des Gedichts vertieft Genuss und Verständnis. Die beiden Strophen aus je sieben Zeilen zeichnen zwei verschiedene Lebenshälften. Blühende, reifende, sommerlich-herbstliche Lebensfülle zeigt sich in einem Land und See verbindenden Raum. Bei Birnen darf man saftige Früchte im Mund verspüren, zumal wenn sie in Gelb einen hohen Reifegrad erreicht haben. Auch die in den See hängenden Rosen blühen stark und temperamentvoll – voll und wild.

Die Schwäne – in weißem Federkleid – werden durch das feierlich-freundliche »hold« geadelt, über das Tierhafte hinausgehoben. In mythischen und poetischen Traditionen verkörpern Schwäne Liebe und Verwandlung, Reinheit, Reifung und Vollendung. Hölderlin versetzt sie gar in einen erotisch-rauschhaften Zustand – trunken von Küssen.

Diese poetische Bilddynamik wird noch gesteigert: Die Schwäne – als verständige Wesen angesprochen – schwimmen auf dem Lebensurelement, sie tauchen dazu noch in das Wasser ein, und zwar in feierlicher Weise. Das Bild von den ins Wasser tunkenden Häuptern führt an den sakralen Taufakt heran, zumal der Schwanenkopf mit dem Menschenhaupt bezeichnet wird. Es geht um Reinigung, Erneuerung des Lebens. Durch Hölderlins kühne Wortschöpfung »heilignüchtern« wird dem Wasser über seine natürliche Eigenschaft hinaus eine besondere Qualität zugeschrieben.

Die Formulierung fügt zwei gegensätzliche Bereiche zusammen, setzt sie gleichzeitig in Spannung zueinander: Heiliges verweist auf etwas Besonderes, Erhabenes, Verehrungswürdiges, einer göttlichen Sphäre nahe. Nüchtern meint besonnen, sachlich, profan, rational, dem Irdischen verbunden. Vielleicht lassen sich die Pole des Spannungsgefüges mit Gefühl und Vernunft benennen, Transzendenz und Immanenz. »Heilignüchtern« – ein Spielraum des Verstehens. Die zweite, die winterliche Lebenshälfte beginnt mit einem Klageruf – »Weh mir«. Die Lebensfülle mit Blüten, Früchten, feierlichen Tieren, mit Leidenschaft und Weihe, mit Adjektiven prallen Lebens – gelb, voll, wild, hold, heilignüchtern, sie ist verloren.

»Sinnzugänge lassen sich beim lauten Lesen finden«

Ohne Sonnenschein ist es dunkel und kalt, ohne Licht entsteht kein Schatten. Statt vor Organischem – Pflanzen und Tiere mit Wärme und Farben – steht das klagende Ich vor Mauern, vor unbelebter Materie – »sprachlos und kalt«. Nur ein Ton ist zu hören, das harte Klirren der metallenen Wetterfahnen – Metall auf Metall – im winterlichen Wind. Der Gleichklang der Wortanfänge »weh«, »wo«, »wenn«. »Winter«, »Winde« in der zweiten Strophe wird mit »wild« in der ersten Strophe vorbereitet. »Hälfte des Lebens« entfaltet Wandlungen – vom Hellen des Tages ins Dunkle der Nacht, von der Wärme des Sommers zur Kälte des Winters, von jugendlichen Phasen des Lebens zum Alter, zum Tod.

Gewinnt die erste Strophe in der außergewöhnlichen Wortschöpfung »heilignüchtern« einen bedeutungsschweren Höhepunkt, so lastet in der zweiten Strophe das Adjektiv »sprachlos« besonders schwer. Ohne Sprache erstirbt das Gespräch, endet die Gemeinschaft. Dieser lebensfeindlichen Sprachlosigkeit setzt Hölderlin in der Hymne »Andenken« die Poesie entgegen: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«

Hölderlin beklagt die Trennung des Menschen von der Natur und vom Göttlichen. In »Hyperions Schicksalslied« heißt es von den Himmlischen: »Ihr wandelt droben im Licht / auf weichem Boden« – »Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen /es schwinden, es fallen / die leidenden Menschen.« Es gibt aber auch Grund, göttliche Spuren im Leben zu loben, so in der Hymne »Brot und Wein«: »Brot ist der Erde Frucht, doch ist’s vom Lichte gesegnet / und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins.«

In seinen Gedichten spricht Hölderlin über Orte (Teck, Burg Tübingen, Heidelberg), über Flüsse (Main, Neckar, Rhein), er wendet sich an Personen (An Diotima, An die Deutschen, An die Göttin der Harmonie/Urania …), er thematisiert Werte und Bereiche (Hymne an die Freiheit, Der Lorbeer, Heimat, Der Abschied, Lied der Liebe). In dem Briefroman »Hyperion oder Der Eremit in Griechenland« (1797/1799) geht es um den Freiheitskampf der Griechen und um die Verehrung der gotterfüllten Natur.

Zugänge zu Hölderlins Werk ergeben sich auch über das Leben des Dichters, seine Herkunft und Krankheit. Im Tübinger Stift entsteht eine intensive Freundschaft mit zwei Mitstudenten, die bedeutende Philosophen werden. Der gleichaltrige Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) wird mit seiner Geschichtsphilosophie politisch wirksam. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) ist mit seiner Naturphilosophie hervorgetreten. »Die Tübinger Drei« haben sich gegenseitig gefördert.

1806 kehrt Hölderlin zwangsweise nach Tübingen zurück. Im Turmzimmer der Familie Zimmer verbringt der kranke Dichter seine zweite Lebenshälfte. Die hoffnungslose große Liebe zu Susette Gontard lebte in der poetischen Gestalt Diotima fort. Verehrt hat er Friedrich Schiller, der Pfarrer werden wollte und nicht durfte, während Hölderlin nach dem Wunsch seiner Mutter Pfarrer werden sollte und nicht wollte. Jeweils nur kurz wirkte er als Hauslehrer in Walterhausen in Thüringen, in Frankfurt am Main, in Hauptwil in der Schweiz, in Bordeaux in Frankreich.

»Es geht um Reinigung, Erneuerung des Lebens«

Hölderlins Werk wurde im Laufe der Zeit unterschiedlich interpretiert. In den drängenden Problembereichen der Gegenwart – Freiheit, Bindung, Ökologie, Überleben – gewinnt Hölderlin mit zwei gleichaltrigen Zeitgenossen weltweite Aktualität. Alexander von Humboldt (1769–1859) erkennt durch seine umfangreichen Forschungen, dass alles mit allem zusammenhängt. So wird er ein starker Impulsgeber für ökologisches Denken. Über den Komponisten Ludwig van Beethoven (1770–1827) sagt der Dirigent Wilhelm Furtwängler: »Niemals hat ein Musiker von der Harmonie der Sphären, dem Zusammenklang der Gottesnatur mehr gewusst und erlebt als Beethoven.« Die von ihm vertonte Ode »An die Freude« von Friedrich Schiller ist seit 1985 die Hymne der Europäischen Union.

Friedrich Hölderlins Dichtung kreist in vielfältigen Ansätzen um das Verhältnis des Menschen zur Natur und zum Göttlichen, um die Sehnsucht, Getrenntes zu verbinden. Ein Naturwissenschaftler, ein Komponist, ein Dichter fordern heraus: Wichtige Erkenntnisse begreifen, bewegende Musik hören, Poesie mit Kopf und Herz nachvollziehen. Wissenschaft und Künste beschreiben die Wirklichkeit der Welt, ihre Schönheit und Würde. Sie rufen zum Frieden auf, zu einem verantwortlichen Umgang mit der Natur. Sie warnen vor ihrem Untergang. Wissenschaft, Musik und Poesie beschreiben das »heilignüchterne« Ganze des Lebens. (GEA)

 

NEUES MUSEUM

Pünktlich zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins sollte das Wohnhaus seiner Familie in seiner Heimatstadt Lauffen am Neckar als Museum eröffnet werden. Aber das Coronavirus hat alle Planungen zunichte gemacht. Die Eröffnung ist nun für Anfang Juni geplant, wie die Leiterin des Hauses, Eva Ehrenfeld, mitteilte. In dem früheren Wohnhaus, das für 5,3 Millionen Euro restauriert und umgestaltet wurde, verbrachte Hölderlin zwei Jahre seiner frühesten Kindheit. Das Museum beherbergt neben einer Ausstellung in den früheren Wohnräumen auch einen Veranstaltungsraum im Anbau. Die Kosten tragen Land, Stadt, Bund und private Förderer. (dpa)