REUTLINGEN. »Ich hatte Vorbehalte. Ich wollte mir und dem Publikum das nicht zumuten.« Nicht die Tatsache, dass Christian Hempel kein ausgebildeter Schauspieler ist, ließ ihn zweifeln, ob es gut wäre, eine Bühne zu betreten. Sondern die Tatsache, dass er das Tourette-Syndrom hat, was zu unkontrollierbaren Ticks - Schimpftiraden und motorischen Ausbrüchen - führt. Im Scheinwerferlicht stehen, wo er doch sonst lieber Kontakte mit Menschen, die nicht über ihn Bescheid wissen, meidet? Bis heute koste ihn das Überwindung, sagt Hempel im Bühnenstück »Chinchilla Spin-off, waswas«, in dem er sein Leben mit Tourette reflektiert und für die Zuschauerinnen und Zuschauer erlebbar macht.
»Man kommt anders raus, als man reingegangen ist«, wird eine Zuschauerin anschließend sagen. Man fühlt sich ertappt, erhellt, erheitert. Peinlich berührt und verständiger. In 18 Kapiteln an die Hand genommen, provoziert, zum Nachdenken gebracht. Darüber, was sozialer Zusammenhalt bedeutet. Was aus Distanziertheit und Vorurteil Unverständnis und Ausgrenzung werden lässt. Darüber, was zumutbar ist - für Menschen mit Tourette und solche, die sich von ihnen gestört fühlen. Wenn sie denn überhaupt je jemanden kennenlernen, der mit Ticks zu kämpfen hat. Ein Nachbar hat vor Jahren versucht, eine einstweilige Verfügung gegen Christian Hempel zu erwirken.
Experte des Alltags
Es gehört zu den Besonderheiten der Theatergruppe Rimini Protokoll, dass sie Experten des Alltags in den Mittelpunkt von Theaterproduktionen stellt. Beim Solo, das am Samstagabend das Reutlinger Festival Monospektakel im Theater Die Tonne eröffnet hat, war das Theater TD Berlin Kooperationspartner von Rimini Protokoll und Regisseurin Helgard Haug. Eine Vorgängerproduktion, »Chinchilla Arschloch, waswas«, war 2020 zum Berliner Theatertreffen eingeladen, das gleichnamige Hörspiel (Produktion: WDR) wurde mit dem ARD-Hörspielpreis 2019 ausgezeichnet.
Christian Hempel, den man an diesem Abend auch in einem alten Ausschnitt aus »Stern TV« (damals noch mit Günther Jauch) zu sehen bekommt, hat sich ausbedungen, dass sein guter Freund Stefan Schliephake ihn auf die Bühne begleitet. Der sitzt denn auch neben ihm, mit Laptop vor sich an einem Schreitisch, assistiert mit einem Scheinwerfer und mit Fotos und Einspielern beziehungsweise einer Live-Schalte, die er auf der Großleinwand, die hinter Christian Hempel angebracht ist, abfährt. Während dieser seinen Text vorliest. Dass er das tun kann, war seine zweite Bedingung an die Theatermacher.
Mit Tourette im Stadion
Die Live-Schalte gilt Bijan Kaffenberger, der seit 2019 Abgeordneter im Hessischen Landtag ist, Sprecher der SPD-Landtagsfraktion für Digitales und Innovation, Wissenschaft und Kultur. Er grüßt Reutlingen vom Rand einer Karnevalssitzung aus. Kaffenberger ist seit der Uraufführung auch im Theaterstück »Chinchilla Arschloch, waswas« dabei. Er hat seit seinem sechsten Lebensjahr das Tourette-Syndrom. Er erinnert sich, dass er einmal im Reutlinger Kreuzeiche-Stadion war. »Da schreien sie alle rum. Da fällt das gar nicht auf«, sagt er.
Sind die Menschen heute aufgeklärter und entspannter als noch vor ein paar Jahren im Umgang mit Tourette? »Mein Tipp ist die 'Bergdoktor'-Folge von vor zwei Wochen«, wirft Assistent Stefan Schliephake zu dem Thema ein. Das Theater in Reutlingen aus Beton und Glas sei eigentlich ein Problem für ihn, lässt Christian Hempel das Publikum wissen. »Beton macht mich kaputt, und Glas mach' ich kaputt.« Wenn er erstmal auf der Bühne sei, gehe es. Er wirkt in der Tat entspannt dort, scheint sich verstanden zu fühlen. Und nimmt vom Publikum mit, dass es in Reutlingen »Relaxed Performances« gibt, bei denen das Publikum auch mal »laut sein darf«. Bei diesem Theaterabend mit Christian Hempel selbstverständlich auch, ist er doch nicht nur Teil des Monospektakels, sondern auch ein sogenannter »Step«, der zum Festival Kultur vom Rande im Mai hinführt. (GEA)