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Aktuell Generationswechsel

Chefin der Imaginationsinsel

Aline Lukaszewitz übernimmt von Wolfgang Riehle den Vorsitz des Kunstvereins Reutlingen

Vorsitzende des Kunstvereins Aline Lukaszewitz (links) neben ihrem Vorgänger Wolfgang Riehle
Gruppenbild vor einer Installation von Vera Kox in deren Ausstellung im Kunstverein: Die neue Vorsitzende des Kunstvereins Aline Lukaszewitz (links) neben ihrem Vorgänger Wolfgang Riehle und der künstlerischen Leiterin Imke Kannegießer. Foto: Armin Knauer
Gruppenbild vor einer Installation von Vera Kox in deren Ausstellung im Kunstverein: Die neue Vorsitzende des Kunstvereins Aline Lukaszewitz (links) neben ihrem Vorgänger Wolfgang Riehle und der künstlerischen Leiterin Imke Kannegießer.
Foto: Armin Knauer

REUTLINGEN. Frauen an der Spitze von Kunsteinrichtungen, das ist längst Normalität. Nun führt eine solche auch den Kunstverein Reutlingen. Die Reutlinger Zahnärztin Aline Lukaszewitz hat als Vorsitzende Architekt Wolfgang Riehle abgelöst. Die inhaltliche Linie bestimmt mit der künstlerischen Leiterin Imke Kannegießer ja bereits länger eine Frau.

Die Wahl von Lukaszewitz ist eine deutliche Verjüngung: Sie ist Jahrgang 1973, Riehle 1953 geboren. Lukaszewitz kam erst vor einem guten Jahr in den Kunstvereins-Vorstand: »Eine Schornstein-Karriere«, grinst sie im Gespräch.

Der Kunstverein sei für sie wie eine Insel der Imagination im Alltag, hatte sie nach ihrer Wahl gesagt: ein Ort, an dem Menschen sich treffen, die sich der Vorstellungskraft hingeben wollen. Ihre Kunstbegeisterung kommt nicht von ungefähr, ist sie doch die Tochter des Pädagogen, Künstlers und langjährigen Stadtrats Ulrich Lukaszewitz. Ihre Schulzeit an der Waldorfschule habe das Ihre dazu beigetragen, ihr Interesse fürs Schöpferische zu wecken. Gelegentlich ist sie auch schon selbst schöpferisch tätig geworden. »Ob man das Kunst nennen kann, weiß ich aber nicht«, lacht sie.

Einen Bruch mit der Ära Riehle hat Lukaszewitz jedenfalls nicht im Sinn. Die Fußstapfen ihres Vorgängers, der seit dem Jahr 2000 im Amt war, seien groß. Sie werde ihren eigenen Stil haben, die Amtsführung ihres Vorgängers werde ihr aber Wegweiser sein. Sie sei dankbar, dass Riehle noch bis Ende 2022 im Vorstand bleibe und ihr zur Seite stehen könne.

Kunstvereine als Sprungbrett

Die Kunstvereine hätten eine besondere Aufgabe als Plattform zum Experimentieren für junge Künstler, als Sprungbrett vor dem Schritt in die großen Museen und Galerien – das betonen Riehle und Kannegießer. Das wird wohl auch unter Aline Lukaszewitz die Linie bleiben. Die im Übrigen nicht die einzige Neue im Amt ist – auch die Stellvertreter haben gewechselt: Dr. Jörg Meyer und Hochschulprofessor Henning Eichinger lösen Ehrhard Vogel und Eberhard Freudenreich ab.

Der Vorstand sei ein tolles Team, schwärmt Riehle. »Es muss ja auch Spaß machen, das ist ja alles Ehrenamt!« Über 20 Jahre lang stand Riehle der Institution vor. Damit gehört er zu jenen drei langjährigen Vorsitzenden, die den Kunstverein besonders geprägt haben. Der erste war Alfred Hagenlocher, der ihn 1953 gründete. Eine starke, aber zwiespältige Persönlichkeit, ein Mann, der unter den Nationalsozialisten als Gestapo-Mitglied Dissidenten jagte – um nach dem Krieg zum Förderer der eben noch als entartet diffamierten modernen Kunst zu mutieren. Er baute den Kunstverein zur viel beachteten Institution im Alten Rathaus aus, ehe er 1976 als Direktor des von ihm mit initiierten Kunstmuseums nach Albstadt ging.

Nach zwei Vorsitzenden mit kurzen Amtszeiten war Sparkassen-Chef Uwe Jens Jasper die nächste prägende Gestalt. Einer, der die große nationale und internationale Kunst herholte, wie Riehle lobt.

Unter Riehle erlebte der Kunstverein seinen räumlichen Quantensprung. Die Kabinette im Alten Rathaus mit ihrem Wohnzimmer-Charme waren schön für Zeichnung und Grafik – für fast alles andere zu klein. Die Finanznöte der Stadt boten die Gelegenheit: Die neu gewählte OB Barbara Bosch wollte eine der personalintensiven Kunst-Etagen im Ziegelbau am Wandelknoten loswerden. »Wir haben uns das nicht entgehen lassen«, so Riehle.

Auf luftigen, lichtdurchfluteten 700 Quadratmetern Industriefläche waren plötzlich ganz andere Dinge möglich: Malerei im Riesenformat, raumgreifende Installationen, tonnenschwere Skulpturen. »Im Alten Rathaus waren die Böden auf größere Lasten ja gar nicht ausgelegt«, erinnert sich Riehle. Bei den Schauen zur »Kunst Reutlingen« und anderen Projekten bot sich auch die Kooperation mit dem Kunstmuseum an, das die Etagen oberhalb und unterhalb betreibt. Unter Riehle gab es auch die dicksten Schlagzeilen, als sich die Altmeister und Super-Promis Georg Baselitz und Albert Oehlen die Etage mit neuer Malerei teilten. Richtig glücklich wurden Riehle und der Vorstand mit dem Event nicht – man sei übereingekommen, so was nicht noch einmal zu versuchen.

Großer Wurf »Weltenwechsel«

Ein richtig großer Wurf wurde jedoch die Schau »Weltenwechsel« mit DDR-Kunst aus der hochkarätigen Sammlung des Reutlinger Unternehmers Siegfried Seiz. Die Ausstellung in Kooperation mit Kreissparkasse und Kunstmuseum entfaltete ein faszinierendes Panorama der Kunst in der späten DDR.

Noch eine wichtige Neuerung unter Riehle: Aus dem Geschäftsführer des Kunstvereins wurde ein künstlerischer Leiter. Clemens Ottnad hatte den Hut genommen mit dem Vorwurf, der Vorstand rede ihm zu viel drein. Worauf man sich im Vorstand verständigte, dass die hauptamtlich leitende Kraft auch die künstlerische Linie bestimmen soll. Was nicht heißt, dass der Vorstand nicht mehr mitredet. Doch kommen die Vorschläge für Ausstellungen grundsätzlich von der künstlerischen Leitung, dieser Tage also von Imke Kannegießer.

Diese schätzt durchaus das Feedback durch den Vorstand: »Diskussion ist ja immer gut!« Das helfe, das Programm in der Stadt zu verankern. Zumal der Vorstand eine Art Querschnitt des kunstsinnigen Reutlingens ist. Die Künstler Henning Eichinger, Eckart Hahn, Tanja Niederfeld und Eberhard Freudenreich gehören dazu, nebst weiteren Mitgliedern aus Wirtschaft und Bildungsbürgertum.

Basis jedoch sind die Mitglieder des Kunstvereins. 360 zählt die Institution derzeit. Da sei viel Luft nach oben, so Riehle, »bei fast 300 000 Einwohnern im Landkreis«. Wobei die Kurve zuletzt nach oben zeigte, auch durch starke Online-Aktivitäten von Imke Kannegießer und ihrem Vorgänger Christian Malycha.

Die Mitglieder sind mit ihren Beiträgen eine der finanziellen Säulen des Kunstvereins. Sie sind gleichzeitig Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Man trifft sich bei Kunstexkursionen – so nicht gerade Pandemie ist; man trifft sich bei Vernissagen, diskutiert, taucht gemeinsam ein in das, was Aline Lukaszewitz so treffend die Insel der Imagination genannt hat. Wer weiß, vielleicht gibt es ja noch weitere Aspiranten für solche Trips ins Reich der Vorstellungskraft. (GEA)