REUTLINGEN. Sie ist angekommen. Minutenlanger Beifall prasselt am Ende in der Stadthalle, Jubelrufe im Chor tönen sogar, für das Orchester, für das Programm – und nicht zuletzt für die Neue: Ariane Matiakh, in Straßburg lebende Französin, seit September Chefdirigentin der Württembergischen Philharmonie. Wie elektrisiert zog die zierliche Frau am Pult die Fäden, trieb die Philharmonie zu enormer Spannkraft, Präzision und Klangsinnlichkeit. Ein Genuss.
Kein Selbstläufer. Denn das Programm dieses ersten Sinfoniekonzerts am Montagabend in der Stadthalle hat die Hörer herausgefordert. Sie mit Ungewohntem, Schroffem, Dunklem konfrontiert. Ein Statement Marke Matiakh: Man will nicht bloß unterhalten, sondern in die Tiefe gehen. Fragen stellen. Auch existenzielle.
»Gibt es Vorahnung?«, fragt denn auch eine weibliche Stimme zu Beginn aus dem Off – mutmaßlich die der Dirigentin. Hat Alfred Schnittke seinen kurz darauf folgenden ersten Schlaganfall geahnt, als er 1985 sein grenzdüsteres Bratschenkonzert schrieb? Haben die Programmmacher geahnt, in welchem Ausmaß dieses Werk zur aktuellen Situation mit Krieg in Osteuropa passen würde, als sie lange vor Kriegsausbruch das Konzert planten?
Schnittkes Endzeit-Szenerie
Furios, wie der Brite Lawrence Power und die Philharmonie unter Matiakh dieses Konzert hinlegen. Alles ist hier erschütternd: die tiefe Melancholie zu Beginn in der Solobratsche, die von Streichermunkeln unterwandert wird; der brutale Orchesterschlag, der den Solisten ins Getümmel des schnellen Satzes wirft; sein rastloser Kampf dort, umflackert von der grellen Endzeit-Szenerie des Orchesters; das Finale – ein Panorama rauchender Ruinen, durch das der gebrochene Held wandelt. Das alles immer wieder unterbrochen von sanft schmelzender Melodik, die wie unwirkliche Erinnerung an schöne Zeiten hereinbricht. Power gelingt es, die Vehemenz und Verzweiflung dieses Leidenswegs spürbar zu machen. Und doch seinem Bratschenpart immer eine Grundhaltung der Kultiviertheit zu bewahren. Was wie ein berührendes Beharren auf Humanität wirkt.
Dunkel ist der Klang insgesamt in diesem Schnittke-Werk; keine Geiger sitzen im Orchester, dafür bietet Schnittke an tiefen Streichern, Bläsern, Tasteninstrumenten, Harfe und Perkussion ein wahres Panoptikum auf. Sieben Schlagwerker zelebrieren Geräusch-Szenerien vom Wispern bis zur Urkatastrophe; Klavier, Celesta, Harfe und sogar ein Cembalo (auf dem Keyboard simuliert) weben an dieser Vision mit. Glockenspiel-Glitzern, Gongdröhnen, dann plötzlich Melodik wie aus dem Wiener Kaffeehaus, ausgerechnet von der Tuba. Doch gleich wieder grelle Xylofonschläge, geisterhafte Piccoloflöte, Vibrafonwölken. Im Finale poltert ein monströser Zirkusmarsch voran, steigt fahl die Oboe empor, pechschwarz orgeln Choräle der Posaunen, der Fagotte.
Und in diesem Panoptikum Powers Bratsche, sinnend, sehnend, leidend – und immer wieder sich fortträumend in bessere, hellere, heilere Welten, mit leichtfüßig barock trillerndem Tanzgestus gar. Bis der Spuk am Ende mit Paukengrollen verebbt. Großartig, erschütternd. Die Zugabe, eine sanft kreisende Meditation gebrochener Akkorde (der 3. Satz »Imitatione delle Campane« aus Johann Paul von Westhoffs Violinsonate Nr. 3) war nach dieser Nachtfahrt wie das Heraufdämmern der Morgensonne.
Ives’ unbeantwortete Frage
An den Anfang hatten die Programmmacher nicht umsonst die berühmteste in Musik gegossene Frage der Musikgeschichte gestellt: Charles Ives’ »Unanswered Question«. Famos hingelegt mit einem weltvergessen ins Weite träumenden Streicherschleier, über den von draußen das klagende Fragen der Trompete weht, gefolgt von zunehmend erregteren Entgegnungen des Flötenquartetts. Die Antwort? Sucht man in diesen Zeiten vergebens. Wie passend, dieses Stück von 1907!
Zum Schluss die »Symphonie fantastique« von Hector Berlioz. Ihrerseits eine (Alp-)Traumfantasie in Tönen. Mit Visionen von Drogenrausch und Liebesekstase bis hin zum Sturz ins Fegefeuer eines inneren Jüngsten Gerichts.
Auch da begegnet man schillerndsten Klangmischungen. Allen voran im dritten Satz der berühmte »Kuhreigen«-Dialog von Enschlischhorn und Oboe (Letztere hinter der Bühne), berückend bergeinsame Frage-und-Antwort-Spiele. Aber auch graziös walzerndes Ballsaal-Glitzern (im zweiten Satz, luftigleicht umgesetzt); und in den beiden Schlusssätzen die wilde Groteske von Richtplatz, Jüngstem Gericht und Hexensabbath. Blechbläserbrandungen vom Feinsten. Paukengewitter in Vollendung. Zartestes Geigenfedern. Cellosamt zum Verzücken. Harfen- und Holzbläser-Farbspiele wie aus dem Aquarellkasten. Absolut zauberhaft.
Im Gegensatz zu Schnittkes Rütteln am Existenziellen hat Berlioz’ Albtraumvision etwas Theaterhaftes. Das Gruseln und Sehnen kann man hier genießen wie Kino. Wahrhaft großes Kino. Ariane Matiakh hat zweifellos ein Händchen für die Raffinessen ihres Landsmanns Berlioz. Ein Einstand nach Maß. (GEA)