STUTTGART. Am Ende ist der grausame Jago fast doppelt so groß wie Desdemona und überragt Otello um zwei Köpfe. Der schlanke Bariton Daniel Miroslaw wirkt surreal in die Länge gezogen wie eine Giacometti-Skulptur. Klar: Der Intrigant hat alle im Griff, niemand wird seinem Vernichtungsdrang entgehen. Otello wird die treu ihn liebende Desdemona im Eifersuchtswahn erwürgen und sich anschließend selbst richten. Ihr angeblicher Liebhaber Cassio (Sam Harris) wird seinen Konkurrenten Rodrigo (Alberto Robert) töten.
In Jagos »Credo«, mit dem Verdis Librettist Boito ihm anders als Shakespeare eine weltanschauliche Erdung verpasste, ist er noch nicht ganz so groß, sitzt an einer Töpferscheibe und haut die gerade geformten Gefäße wieder kaputt. Ein Bild für seine destruktive Religion des Bösen, für die er ein eigenes Glaubensbekenntnis parat hat: »Ich glaube an einen grausamen Gott, der mich erschaffen hat zu seinem Ebenbild.« Miroslaw gelingt es, Jagos von Lügen befeuerte Verführungskraft glaubwürdig darzustellen – dank seiner zu vielfältigen Ausdrucksnuancen fähigen Stimme und einer geschmeidigen, präzisen Körpersprache. Er verleiht Jago ein unheimliches Charisma.
Verzicht auf Naturalismus
Silvia Costas Inszenierung von Verdis später Oper »Otello«, die jetzt an der Oper Stuttgart Premiere feierte, verzichtet weitgehend auf Naturalismus. Das Bühnenbild (Costa) zeigt einen weißen, hermetischen Raum mit Lichtschächten, Zugängen und quaderartigen Versatzstücken, die sich gelegentlich aus der Wand schieben. Einmal baut sich eine schwarze Mauer mit zwei Durchgängen auf – um Intimität fürs intrigante Einflüstern Jagos, aber auch für Duette des Paares Otello und Desdemona herzustellen.
Auch in den Kostümen (Gesine Völlm) herrscht Schwarz-Weiß-Kontrast. Zu Beginn trägt nur Jago Schwarz, während das Volk ganz in Weiß das Schiff des siegreichen Heeresführers Otello erwartet. Später ist auch der (von Manuel Pujol glänzend vorbereitete) Chor schwarz gewandet: formiert zur christlichen Prozession, die Desdemona als Marienfigur feiert, oder zur inquisitionsähnlichen Truppe mit venezianischen Masken vorm Gesicht. Costa arbeitet mit Raum- und Lichtwirkungen, manchmal mit feurig-roter Beleuchtung. Ein Wasserspiel wird da flugs zum Becken voller Blut. Alles wirkt präzise durchkomponiert, formenstreng, Bewegungen wie ritualisiert, Otellos Mord gar stilisiert. Sparsam eingesetzt kommen Mobiliar und Requisiten symbolisch zum Einsatz: etwa als Perlen- und Lilien-Schmuck für Desdemona oder wenn vor ihrem Tod zig Petruskreuze auf weißer Wand erscheinen.
Videokunst als Ruhepol
Als Kontrast zu den dramatischen Ereignissen auf der Bühne gibt es zwischen den Akten Videokunst von John Akomfrah. Sie funktioniert als Ruhepol und Gegenwelt. Wellenrauschen, ein Mann blickt am Strand übers bewegte Meer, ein bisschen an Caspar David Friedrich erinnernd. Textfragmente aus Shakespeares Original schieben sich dazwischen, Denkräume öffnen sich.
Marco Berti agiert als Otello etwas steif, aber sein mächtig-stählerner Tenor beeindruckt – auch wenn er die Hochtöne manchmal zu tief ansteuert. Die Sopranistin Esther Dierkes verleiht ihrer Desdemona mit warmem, emotional durchwirktem Timbre die an diesem Abend einzig hörbare Stimme der Liebe. Herrlich ihr »Lied der Weide« samt »Ave Maria«. Eine wirkungsvolle Idee: In ihren Duetten bleiben Otello und Desdemona auf Distanz, während sich ein tanzendes Paar in schwarzen Ganzkörpertrikots wie Schatten von ihnen löst und das Mögliche, aber durch Jago Verhinderte zeigt: Umarmungen, Küsse, den Liebesakt.
Verzicht auf »Blackfacing«
Costa verzichtet zum Glück auf das rassistisch konnotierte »Blackfacing« Otellos – was freilich Probleme anderer Art mit sich bringt. Bleibt das Außenseitertum Otellos bloße Behauptung? Costas Lösung einer rituellen Übertragung funktioniert nur bedingt: Vor Otellos erstem Auftritt wird eine an zwei Eisenketten gezogene, menschengroße Skulpturenstehlampe auf der Bühne positioniert, wie sie einst in venezianischen Aristokratenhäusern Mode war: Sie zeigt eine dunkelhäutige Person, die die Lichtquelle in die Höhe stemmt. Ein riesiger Lkw-Reifen wird darüber gerollt; wenn Otello auftritt, prangt ein schwarzes Reifenmuster auf seinem schneeweißen Gewand. Ob das jeder versteht?
Aber Costa hat sehr gut in die Partitur hineingehört und vieles auf der Bühne mit dem Graben synchronisiert. Und Stefano Montanari dirigiert den Abend fabelhaft, das Staatsorchester ist in Bestform: Der lange Spannungsbogen der Oper baut sich straff und stringent auf. Eine so differenziert ausgearbeitete Verdi-Darbietung – von paukendonnernder Dramatik über die emotionalen Farben, die vom Inneren der Figuren künden, bis hin zu ätherischem Nachhallen – hört man selten. Am Ende verschmelzen Musik und Inszenierung miteinander, und alles ergibt einen Sinn. (GEA)