REUTLINGEN. Die neue EP »Neue Dimensionen« des von Bernhard Haage ist Lebensbilanz und Ausblick zugleich. Und wirft die Frage auf, was wohl gewesen wäre, wenn Haage woanders hingegangen wäre. Hätte man ihn im Norden womöglich als neuen Held der Hamburger Schule bejubelt?
Haage spielt auf seiner jüngsten EP »Neue Dimensionen« selbst mit solchen Gedanken: »Die Coolen sind längst nach Berlin gezogen und stehen dort im Stau«, singt er im Song »Berlin«. Und schiebt hinterher: »Vielleicht bin ich morgen fort, ich kann ja überall traurig sein und Lieder schreiben ganz allein.«
Tatsächlich ist Haage noch da, ist nicht nach Berlin gegangen, auch nicht an die Waterkant. Und statt Teil der Hamburger Schule zu werden, ist er ein wunderliches Gewächs der Popszene an der Albkante geblieben. Was dann auch wieder passt, weil dieses traumtänzerische Außenseitertum Kern seiner Lieder ist.
Bilanz und Ausblick halten jedenfalls die euphorische wie die niederschmetternde Variante offen. Der Titelsong »Neue Dimensionen« ist ein so kraftvoll rockender Aufbruch in eine neue Liebe, dass es einen förmlich mitreißt. »Wie komisch« hingegen, dunkel deklamierend zu einsamem E-Gitarren-Blinken, ist tieftraurige Resignation. »Wer 10.000 Jahre schreibt, ist sehr allein«, konstatiert der Sänger desillusioniert. Und fragt: »Soll das ewig so weitergehen?«
Haage, das macht diese EP erneut klar, ist einer der pointiertesten Pop-Lyriker, die wir haben. Seine Texte kommen wie beiläufig daher und treffen doch den Punkt; sie atmen anarchischen Humor, lassen sich in skurrile Fantasien treiben – und sind doch im entscheidenden Moment tiefgründig, voll menschlicher Wärme und Traurigkeit.
Da erlebt man in »Ententeich« einen Spaziergang in der Natur als vollkommenen Augenblick. Da hört man in »Berlin« die lakonische Ironie nur so knistern. Man erkennt mit »Astronauten«, dass die eigentliche Wahrheit zuweilen in ungeniertem Nonsens liegt und die Kunst darin besteht, das Verrückte zu träumen: Das letzte Einhorn, es wohnt auf dem Mond. Ehe »Neue Wege« noch einmal alles zusammenfasst, sich gefasst auf den Weg macht.
Die große und die kleine Welt, sie fallen bei Bernhard Haage so leichthin und natürlich zusammen wie bei wenigen. Getragen wird das von den so farbigen wie differenzierten Klängen seiner Band. Mal straight und kraftvoll rockend wie im Titelsong. Mal aufgekratzt blubbernd wie in »Ententeich«. Mal dunkel raunender Grund wie in »Berlin«. Immer wieder durchsetzt von E-Gitarren-Soli. Und bei »Astronauten« mit wohligen Anklängen an Western-Soundtracks à la Ennio-Morricone.
Kurzum: Deutschpop-Liedkunst, als hätten sie Astronauten von einem andern Planeten mitgebracht. Oder zumindest vom Ententeich. (GEA)