REUTLINGEN. Es ist eine emotionale Situation am Donnerstagabend in der Stadthalle. Die Ukraine ist das Thema – und während knapp tausend Besucher klassischer Musik lauschen, ist allen im Saal bewusst, dass zur selben Zeit zwei Flugstunden östlich die russische Aggression weitergeht, Bomben fallen, Menschen sterben. Man will etwas tun und fühlt sich doch hilflos, ein von Tonne-Schauspieler David Liske vorgetragener Text des deutschen Dramatikers Albert Ostermaier bringt es quälend präzise auf den Punkt.
Der Reutlinger General-Anzeiger, die Württembergische Philharmonie (WPR) und die Stadt Reutlingen beschlossen, zumindest im humanitären Bereich etwas zu tun, riefen zum Solidaritätskonzert, holten dafür die Reutlinger Hilfsorganisation »Drei Musketiere« mit ins Boot. Die war bereits drei Tage nach dem russischen Überfall an der ukrainischen Grenze in Polen, baute eine Transportlogistik auf, lieferte Güter für den täglichen Bedarf an die Menschen im Kriegsgebiet.
Die Benefiz-Aktion ist ein großer Erfolg. Allein über den Ticketverkauf kamen 25.477 Euro zusammen, 1.000 Euro über das Catering von Grauer-Gastro, weitere 3.740 Euro über Spenden. Was sich zu 30.217 Euro für die Ukrainehilfe summiert. Als Unterstützer mit an Bord waren die Kreissparkasse, Stadtwerke und GWG-Wohnungsgesellschaft Reutlingen.
Es gibt viele Verletzte, vor allem medizinisches Material wird benötigt
WPR-Intendant Cornelius Grube hat direkten Bezug zur Ukraine, seine Frau stammt von dort, hat in Kiew – oder Kyiv, wie es ukrainisch heißt – noch Familie. Die Lage sei schwierig, zeitweise sei sie genauso gewesen, wie von David Liske mit einem Bericht des ukrainischen Schriftstellers Andrij Kurkow in der Stadthalle vorgetragen: Man liegt nachts wach neben dem Handy, flüchtet vor den Bomben in den Keller, telefoniert morgens die Freunde ab, hofft, dass noch alle abheben.
All das ist präsent an diesem Abend. An dem sämtliche Ticketeinnahmen über die Drei Musketiere der Ukraine zugute kommen. An dem deshalb auch sämtliche Ehrengäste ihre Tickets bezahlt haben: Intendant Grube, OB Thomas Keck, GEA-Verleger Valdo Lehari jr., Landrat Ulrich Fiedler, der ukrainische Honorarkonsul Willi Prettl, dazu Abgeordnete aus Landtag, Bundestag, Europaparlament.
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk bedauert per Videobotschaft, dass er nicht selbst da sein kann. Er ist gerade im Dauereinsatz, um die deutsche Politik zu mehr Waffenlieferungen zu drängen, wählt dafür gelegentlich schroffe Worte, es geht für die Ukraine ums Ganze. Seine Dankbarkeit für Gesten wie dieses Konzert ist zu spüren.
Markus Brandstetter von den Drei Musketieren wiederum meldet sich per Video mitten aus dem Einsatzgebiet aus dem polnischen Radymno an der ukrainischen Grenze. Corona habe die Mannschaft erwischt, aber alle nicht Betroffenen seien mit Hilfsgütern unterwegs, vor allem medizinisches Material werde gebraucht, es gebe sehr viele Verletzte zu versorgen. Bis 6. Mai soll der Einsatz zunächst fortgesetzt werden.
Nicht zuletzt auch die Ukrainer im Saal werden es gerne gehört haben. Eine ganze Zahl von Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, konnte durch Ticket-Patenschaften an dem Abend teilnehmen. Nicht zuletzt auch Mitglieder des Freundeskreises Württembergische Philharmonie haben sich hier engagiert. Unter den Ukrainern im Publikum war auch Anastasiia Dubyna, die am selben Tag 17 Jahre alt wurde – sie bekam von den Veranstaltern einen Blumenstrauß überreicht.
Alle Akteure traten ohne Gage auf: die Württembergische Philharmonie; ihre zukünftige Chefdirigentin Ariane Matiakh, deren Großvater bereits 1921 vor den (damals bolschewistischen) russischen Truppen nach Westeuropa geflohen war; der in der Schweiz lebende Pianist Konstantin Lifschitz, selbst Russe, aber im ukrainischen Charkiw geboren und Unterzeichner des Protestbriefs russischer Intellektueller gegen den Krieg; die Capella Vocalis mit ihrem Dirigenten Christian Bonath, verstärkt durch Sängerinnen des Mädchenchors Reutlingen. Dazu Tonne-Schauspieler David Liske und die ukrainische TV-Moderatorin Iryna Miller als Rezitatoren; sowie vom GEA Iris Goldack und Roland Hauser als Moderatoren des Abends.
Letztere gaben Hintergrund-Infos, stellten die Auftretenden vor, fanden eine gute Balance zwischen der Tragik der Lage und dem Funken Hoffnung, den auch diese Benefiz-Aktion wachhalten will. Als gegen Ende die ergreifenden Klänge des ukrainischen Komponisten Myroslaw Skoryk in seinem Stück »Melodiya« sich erhoben, sei es schwer gewesen, die Fassung zu bewahren, bekannte Iris Goldack hinterher.
Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit
Zu den emotionalsten Momenten gehörte es, als die ukrainische TV-Journalistin Iryna Miller in ihrer Muttersprache das Gedicht »Vermächtnis« des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko rezitierte. Was David Liske anschließend übersetzte. Unter die Haut ging jedoch bereits zu Beginn die Aufführung der ukrainischen Nationalhymne. »Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit«, heißt es da; lange hätte wohl auch in der Ukraine kaum jemand geglaubt, dass das so wörtlich Realität werden könnte. Ergreifend, das von den Stimmen der jungen Sänger der Capella Vocalis zu hören.
Dirigentin Matiakh und Intendant Grube hatten den musikalischen Teil sichtlich als Friedensbitte angelegt. Mit in sich gekehrten Streicherklängen lud der »Abendsegen« des Ukrainers Valentin Silvestrov zum Nachdenken ein. 84-jährig hatte der Komponist aus seiner Heimat fliehen müssen, was er widerstrebend tat.
Den unbegleiteten Klang der jungen Stimmen erlebte man in Johannes Brahms’ Motette »Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz«. Berührend, wie rein und klar die Harmonien sich im Saal entfalteten, getragen vom innigen Wunsch nach Frieden. Diesen Friedenswunsch spricht die Choralkantate »Verleih uns Frieden gnädiglich« von Felix Mendelssohn Bartholdy ausdrücklich an. Ein Stück, das mit tiefer menschlicher Wärme Trost spendet, ein wunderbares Cello-Duett an Beginn und Ende mit eingeschlossen.
Einer der Höhepunkte war fraglos Konstantin Lifschitz als Solist in zwei Sätzen von Mozarts Klavierkonzert KV 466. Ein Werk, das in der Tragik des ersten Satzes die Stimmung ergreifend in Klänge fasste. Während der ruhige zweite Satz die Sehnsucht nach Frieden ausdrückte. Ein Frieden, der auch bei Mozart bedroht ist. Akkorde von schmerzlicher Dramatik zerreißen die Harmonie im Mittelteil. Eine Zäsur, die Konstantin Lifschitz am Flügel in aller Drastik ausspielt.
Insgesamt hat Lifschitz das Konzert mit einer hinreißenden Verbindung von Kraft und Zartheit umgesetzt. Das Dunkle, Tragische ist bei ihm in den rhythmisch kompakten Bässen präsent; das Figurenspiel seiner rechten Hand hingegen lädt zum Träumen ein. Das Finale hatte man weggelassen – wohl, weil es nicht zum ruhigen Charakter des Abends passte.
»Kultur gegen Krieg« stand als Motto über dem Abend. Diese Botschaft wurde in der Stadthalle sehr deutlich. Bereits der ukrainische Botschafter Melnyk hatte in seiner Videobotschaft darauf hingewiesen, dass russische Bomben nicht nur Krankenhäuser und Schulen, sondern auch Theater und Opernhäuser in Schutt und Asche legen. Krieg ist die Negation der Kultur – an diesem Abend setzte die Kultur ein Zeichen gegen den Krieg. Bleibt zu hoffen, dass möglichst bald auch in der Ukraine wieder die Kultur das Leben bestimmt und nicht Granaten. (GEA)