REUTLINGEN. Sie waren beide nicht da zur Vernissage beim Reutlinger Kunstverein. Anna Solal, die junge Objektkünstlerin aus Paris, war krank geworden. Jochen Lempert, den erfahrenen Silbergelatine-Fotografen, Experimentalfilmer und beobachtenden Biologen aus Hamburg, hatte ein Todesfall am Kommen gehindert. So mussten denn Kuratorin Imke Kannegießer und die Vorstandsvorsitzende Aline Lukaszewitz – auch Vorgänger Wolfgang Riehle, frisch zum Ehrenvorsitzenden gewählt, gab sich die Ehre – am Sonntagmorgen die Doppelausstellung »Von der Beobachtung« in den Wandel-Hallen ohne die Hauptpersonen eröffnen.
Die Gegensätze könnten größer nicht sein, aber auch das Gemeinsame kaum: Während Jochen Lempert, Jahrgang 1958, im Understatement von Schwarz-Weiß und ungerahmten Abzügen Askese zelebriert, schwelgt Anna Solal, die 1988 geborene Bildhauerei-Absolventin der französischen Elite-Kunsthochschule ENSBA, bei ihren federleichten und oft sorgsam achsensymmetrisch angelegten Assemblagen in der Fülle des Materials – nur dass dieses Material vor allem Trash ist, Fundstücke von Alltagsmüll, minderwertige »Billigprodukte aus 1-Euro-Shops«, wie Imke Kannegießer das in ihrer Einführung formulierte.
Sanftdunkle Melancholie
Anna Solals präzise Kompositionen verraten auch die Zeichnerin, zu der sie in Brüssel ausgebildet wurde. Mitten im schwarzen farbig ummantelten Gusseisen einer Gasherd-Kochmulde findet sich eine filigrane Buntstift-Zeichnung, die »abhängende Jugendliche«, so die Kuratorin, darstellen könnte. Schwerer Schrott wie klobige Schuhsohlen oder Fahrradketten bekommt Flügel und fügt sich zu den Vogelschwingen der »Birds«, zu Blüten, Engeln oder Lenkdrachen, die anmuten, als könnten sie jeden Moment abheben, sich in die Lüfte schwingen und entschweben.
Dieses verblüffende Zusammenfügen von Gegensätzen, von scheinbar völlig Unvereinbarem könnte als apokalyptische Kapitalismuskritik (neuerdings nennt man das »dystopisch«), als Readymades in der Tradition von Marcel Duchamp oder Picasso, als archaische Kultobjekte des Konsums oder als futuristische Technik-Collagen gedeutet werden. Anna Solal lässt das Schwere ins luftig leicht Schwebende abheben, das Hässliche und Hassenswerte in Hohes, das Verächtliche und Verachtete in Schönheit. »Das Himmlische erden« nannte es Imke Kannegießer, deren den Raum atmen lassende Hängung übrigens Lob verdient. Sie hätte auch sagen können, das Irdische heiligen, das Niedrige erhöhen, von seinen Ketten befreien.
Ganz anders scheint Jochen Lamperts beobachtender Blick durch die Linse seiner Kamera. Im Pariser Centre Pompidou hat der Hamburger gerade eine Einzelausstellung gehabt. Da ist viel Momentum der klassischen Magnum-Fotografen, der Augen-Blick. Da ist aber auch viel Täuschendes, viel Rätsel, das den zweiten, genaueren Blick des Betrachters fordert, ja verlangt. Das scheinbar Gleiche, die Tollkirsche und das exakt genauso schwarzglänzende Auge des Eichhörnchens, das Spiegelbild der Libelle im Wasser, der vierfache Schatten der fliegenden Taube auf dem Asphalt zwischen parkenden Autos oder der etwas größerformatige Pferdekopf im strengen Schattenrahmen.
Eine sanftdunkle Melancholie schwingt in diesen Bildern, schwebt über ihnen, leuchtet hinter ihnen, aber auch eine zarte und tiefe Liebe zum Leben, zur Natur und ihrer bildgebenden, formgebenden Kraft im Spiel von Licht und Schatten, Geschöpf und Abglanz, in Ruhe bewegt. Mindestens das haben die Arbeiten von Anna Solal und Jochen Lempert gemeinsam: Die betrachtenden Augen brauchen Zeit, sich diesen Transformationen in eine zweite Natur ganz hinzugeben. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung "Von der Beobachtung. Anna Solal & Jochen Lempert" ist bis zum 4. September im Kunstverein Reutlingen in den Wandel-Hallen (1. Obergeschoss), Eberhardstraße 14, zu sehen. Geöffnet ist Mittwoch bis Freitag von 14 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag von 11 bis 17 Uhr. (GEA) www.kunstverein-reutlingen.de