STUTTGART. »Was sind das eigentlich für Zeiten?«, rief Matthias Klink mit einer Variation auf Bertolt Brechts »An die Nachgeborenen« ins Stuttgarter Opernhaus hinaus. Wie erschreckend richtig Brecht & Co. ziemlich genau 100 Jahre nach den großen Berliner Erfolgen des epischen Dialektikers heute wieder liegen, in den 20er-Jahren des nächsten Jahrhunderts, das wurde in fast jedem der bissigen, angriffslustigen Texte dieses jazzreichen Liederabends deutlich.
Musikalisch jedoch klang es am Ostersonntag deutlich sinnlicher als damals. Der »Brecht-Weill-Eisler-Abend«, wie dieses erfreulich dichte, nie von Conférencen unterbrochene Programm mit dem Stuttgarter Tenor und Kammersänger, mit Sopranistin Natalie Karl und dem Magnus-Mehl-Quartett untertitelt war, holte den Jazz und Drive, die geheimen Hüftschwünge aus den widerborstigen Rhythmen Kurt Weills heraus. Löste sich von der rauen Tanzkapellen- und Gassenhauer-Ästhetik seiner Schauspielmusiken und legte einen sinnlicheren, fließenden Klang frei.
Verborgener Foxtrott
Immer wieder tauchte unter den scharfen Ostinato-Rhythmen der Songs und Couplets ein verborgener Shimmy oder Foxtrott auf, eine Rumba oder ein Tango. Der virtuose Magnus Mehl an Saxofon und Bassklarinette sowie seine großartigen Kollegen Frank Eberle (Piano), Yaron Stavi (Bass) und Ferenc Mehl (Schlagzeug) feierten mit ihren Soloeinlagen den Komponisten Weill als Lieferanten zahlreicher Jazz-Standards und schweiften, vor allem im zweiten Teil zum Thema Exil, auch mal in freiere, moderne Tongefilde ab.
Matthias Klink, dessen Interesse schon lange weit übers übliche Tenor-Repertoire hinausgeht, sang lasziv und locker, manchmal mit ätzendem Mackie-Messer-Sarkasmus. Zwischendurch griff er auch mal zur E-Gitarre. Seine Frau Natalie Karl fand trotz ihrer hohen Stimmlage die perfekte Mitte zwischen Opernsängerin und Diseuse. Die halbe »Dreigroschenoper« war dabei, dreimal »Mahagonny« und ein wenig »Happy End«; noch stärker aber schienen den Interpreten die weniger bekannten Songs am Herzen zu liegen – Klink etwa die Ballade vom »Ertrunkenen Mädchen« in der englischsprachigen David-Bowie-Version, Karl das melancholische »Je ne t’aime pas«, pur und intensiv nur zu Frank Eberles schöner Klavierbegleitung.
Der Weg ins Exil
Andeutungsweise konnte man aus der Zusammenstellung den Weg der drei als entartet erklärten Künstler verfolgen, vor allem den des Komponisten Kurt Weill, der nach 1933 länger als Brecht und Eisler in Frankreich blieb. »Youkali«, der schwelgerische Titelsong, stammt aus einer vergessenen Pariser Schauspielmusik und klingt deutlich eleganter, französisierter; so sehnsuchtsvoll schildert er das paradiesische Land Youkali, dass man gleichzeitig die reine Illusion des Ganzen heraushört.
Steht nur zu hoffen, dass Klink und seine Mitstreiter an einem Nachfolge-Abend mit Kurt Weills Songs aus dem amerikanischen Exil arbeiten – auch sie sind ein Fundus außergewöhnlicher Melodien mit hintergründigen Texten. (GEA)