REUTLINGEN. Unter dem schlichten Titel einer »Klavierübung« hatte Johann Sebastian Bach einst vier gewichtige Bände drucken lassen, die immerhin solche »Brocken« wie die Goldberg-Variationen enthalten oder auch die beiden Orgelmessen, deren »Große« nun Torsten Wille in der Reutlinger Marienkirche erklingen ließ.
Vom Titel sollten sich weder Spieler noch Zuhörerschaft irreführen lassen. »Sonst könnte man meinen, es handele sich um Etüden für Fortgeschrittene«, wie Torsten Wille in seiner genauso launigen wie tiefgründigen Einführung in die »Stunde der Kirchenmusik am Reformationstag« lächelnd anmerkte. Weswegen sich im Allgemeinen auch die Bezeichnung »Große Orgelmesse« durchgesetzt hat, wiewohl sie nicht vom Komponisten stammt. Sie bezieht sich auf den »Großen Katechismus«, über den Martin Luther 1539 in Leipzig predigte und dadurch maßgeblich zur Einführung der Reformation an Bachs späterem Wirkungsort beigetragen hat. Und Bach, der sich schon länger mit dem Gedanken an einen Orgelzyklus getragen hatte, griff gerne die Jubiläumsfeierlichkeiten aus Anlass von 200 Jahren Reformation in Leipzig auf, um mit einer Reihe von Choralbearbeitungen Luthers theologische Aussagen musikalisch-rhetorisch zu reflektieren.
Raffinierter Bauplan
Und so, wie es von Luther einen »Großen« und einen »Kleinen Katechismus« gibt, schrieb Bach eine »Große« und eine »Kleine Orgelmesse«. Mit solch einem raffinierten Bauplan, dass beide Zyklen genauso gut für sich alleine gespielt werden können wie als gemeinsame Abfolge. Die Choralbearbeitungen der kleinen Messe lassen sich auf pedallosen Orgeln mit nur wenigen Registern oder auch im Hausgebrauch am Cembalo ausführen. Die andere, die Wille nun zum Reformationstag in der Marienkirche erklingen ließ, verlangt nach einem großen Instrument mit entsprechendem Pedalwerk.
Eingerahmt wird die »Große Orgelmesse« durch ein mächtiges Präludium und eine monumentale fünfstimmige Schlussfuge. Arnold Schönberg hat in den 1920er-Jahren diese beiden Teile wie auch zwei weitere Bach-Choräle für großes Orchester bearbeitet, mit der Begründung: »Die Farben bezwecken die Verdeutlichung des Verlaufs der Stimmen, und das ist im kontrapunktischen Gewebe sehr wichtig! Die heutigen Organisten können es nicht, und das ist einer meiner Ausgangspunkte.«
Kontrapunktisch dicht
Hätte Schönberg die Interpretation von Torsten Wille gekannt, hätte er sich möglicherweise den immensen Aufwand seiner Instrumentation erspart. Großartig, wie Wille schon im Präludium, aber auch in allen nachfolgenden Choralbearbeitungen bis hin zum Fugen-Abschluss die Stimmenverläufe nachzeichnete und selbst bei größter kontrapunktischer Dichte die einzelnen Linien transparent werden ließ. Besonders faszinierend bei »Iesus Christus unser Heyland«.
In den drei Kyrie-Versetten gefiel der differenzierte Umgang mit dem stets prägnant herausmodellierten Cantus firmus vor einem jeweils fein ziselierten Geflecht der anderen Stimmen. Im »Allein Gott in der Höh sey Ehr« verlieh Wille der hier als Form zugrunde gelegten Triosonate die erforderliche Virtuosität in den beiden Oberstimmen mit ihren kniffligen rhythmischen Spielfiguren vor einem stark »arbeitenden« Basso continuo im Pedal. Aus der einleitenden Synkopen-Spannung von »Wir gläuben all an einen Gott« gewann Wille die Energie für den weiteren Verlauf, mit Eleganz erklang »Christ unser Herr zum Iordan kam«, und in der finalen Fuge schlug Wille den Bogen zum festlichen Gepräge des gravitätischen Präludiums. Bach widmete den dritten Teil seiner Klavierübung »denen Liebhabern, und besonders denen Kennern von dergleichen Arbeit«. Leuten wie Torsten Wille eben. (GEA)

