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Aktuell Uraufführungen

Ausweitung der Klangzone

Das fünftägige Stuttgarter Festival für zeitgenössische Musik »Eclat« eröffnet spektakulär

Das in Köln beheimatete Ensemble Musikfabrik gestaltete den Festivaleröffnungsabend mit zwei Uraufführungen
Das in Köln beheimatete Ensemble Musikfabrik gestaltete den Festivaleröffnungsabend mit zwei Uraufführungen. Foto: Frederike Wetzels
Das in Köln beheimatete Ensemble Musikfabrik gestaltete den Festivaleröffnungsabend mit zwei Uraufführungen.
Foto: Frederike Wetzels

STUTTGART. »Wir zeigen Omikron die Rote Karte!« Christine Fischer, Intendantin von »Musik der Jahrhunderte«, zeigte sich stolz in ihrer kurzen Eröffnungsrede zum Stuttgarter Festival für zeitgenössische Musik »Eclat«, das bis Sonntag das Stuttgarter Theaterhaus mit neuen Klängen füllen wird.

Die Rote Karte für Omikron bezog Fischer dabei ganz allgemein aufs Festival, das hybrid über die Bühne geht, also sowohl analog im Theaterhaus als auch digital im Netz. Aber im Besonderen bezog sie sie auch aufs erste Stück des folgenden Konzerts, »Plenty For Two. Eine idiosynkratische Allianz« des schweizerisch-italienischen Komponisten Oscar Bianchi, das trotz Corona-Erkrankung eines der Solisten uraufgeführt werden konnte. Sein Part war zuvor per Video aufgenommen worden: Der Kontrabassist Florentin Ginot spielte nun als Projektion mit – vorne an der Rampe.

Fulminante Klangverdichtungen

Diese kurzfristige aufführungstechnische Änderung in einem sehr komplexen Werk hatte das erstklassige Ensemble Musikfabrik in der Leitung von Clement Power präzise miteinstudiert. In seinem gut 40-minütigen Stück für Kontrabass, Posaune und Ensemble offenbart sich Bianchi als versierter Rhythmiker und Metriker. Die unterschiedlichen, auf individuelle Sprachfähigkeit getrimmten Instrumente finden in fulminanten, scheinchaotischen Klangverdichtungen zueinander. Mal streben die Klänge auseinander, dann surren sie wieder zusammen, um in Stille zu münden. Darin eingebettet die Stimmen von Kontrabass und Posaune (Bruce Collins), stets in quecksilbriger Bewegung und Tönchenbeschleunigung.

Arbeitet Bianchi in »Plenty For Two« mit den längst zur Konvention gewordenen Möglichkeiten zeitgenössischer instrumentaler Klangerzeugung – als da wären: Klappenklappern, Bogenklopfen, Saitenknarzen und -jaulen, Luftgeräusche, das Zerren an den Eingeweiden des Flügels und so weiter –, so präsentierte die kanadische Komponistin Annesley Black in »Tolerance Stacks II«, der zweiten Uraufführung des Abends, ein geradezu spektakulär erweitertes Klanguniversum. Ihr mehr als einstündiges Stück ist so etwas wie eine Hommage an die Pioniere der elektrisch ermöglichten Kommunikation.

Dem klassischen Instrumentarium der Musikfabrik standen jetzt analog-elektronische Antipoden gegenüber: ein Minimoog (Ulrich Löffler) – ein kleiner Dino der Synthesizer-Entwicklung von 1970, einstimmig und klanglich ziemlich spacig. Außerdem Plattenspieler, auf denen Hannah Weirich Audiosamples und Tondokumente der Erfinder Thomas A. Edison und Charles Cros bis ins Comichafte zer-scratchte: etwa Edisons Rede zum Thema »Elektrizität und Fortschritt« von 1908 oder Cros’ Gedicht von der Wissenschaft der Liebe.

Heftige Schlagzeugattacken

Mit im Boot auch ein Drumset, an dem Dirk Rothbrust für heftige Schlagzeugattacken sorgte, sowie ein No-Input-Mixer, an dem Rie Watanabe Rückkopplungsschleifen produzierte. Mittendrin die Sopranistin Juliet Fraser, deren Stimme immer wieder elektronisch verfremdet wurde und in synthetischen Tönen vertröpfelte.

»Ich hatte immer Angst vor Dingen, die beim ersten Mal funktionierten«, sang sie sinngemäß, O-Töne Edisons zitierend, der sie 1877 geäußert hatte, nachdem er gehört hatte, wie seine Stimme von seinem ersten Zinnfolien-Phonographen wiedergegeben wurde. Viel los also in Annesley Blacks neuem Stück – eine Ausweitung der Klangzone, inspirierend, fantastisch, vielschichtig, genial, cool. So kann’s weitergehen bei Eclat. (GEA)