REUTLINGEN. So viel Stein war selten in den Wandel-Hallen. Hier ein besägter Alabasterbrocken, dort ein schwarzer Marmorwürfel, in Fotografien des frühen Universums gehüllt. Weiter links ein üppiger Block aus grünem Granit, in den sich die Form eines Blattes gesenkt hat, als wäre das Material ganz leicht und weich. Dabei wiegt der Block eine halbe Tonne.
Von Gianni Caravaggio stammen diese Objekte in seiner Ausstellung »Als Natur jung war« im Kunstmuseum/konkret. Der berühmte Name, den er mit seinem vor fast exakt 450 Jahren gestorbenen Landsmann gemein hat, ist nur außerhalb Norditaliens eine Pointe. Caravaggio ist ein Ort bei Bergamo, »deshalb heißen bei uns viele so«, lächelt der Bildhauer.
Gianni Caravaggio, 1968 in Italien geboren, ist in Sindelfingen aufgewachsen. Mittlerweile lebt er wieder in Mailand, wo er an der Kunstakademie eine Bildhauerklasse unterrichtet. Ruhig und überlegt erläutert er beim Presserundgang seine Arbeiten. Sein Denken hat etwas Philosophisches und gleichzeitig etwas sehr Klares und Geerdetes.
Mysteriöse Rituale
In der Tat sind seine Arbeiten nie reine Skulpturen, sondern immer Installationen mit philosophischer Aussage. Sie wirken, als sei da gerade noch ein mysteriöses Ritual vollzogen worden. Zumal hier nichts auf Sockeln steht, sondern alles auf dem Boden liegt, an der Wand lehnt.
Da liegen dann etwa zweimal sechs goldglänzende Dreikantstäbe aus Messing auf dem Dunkelgrau des Estrichs der Wandel-Hallen: einmal als Bündel von einer orangeroten Schnur umwickelt – ein paar Meter weiter strahlenförmig auseinanderzeigend mit der orangenen Schnur als Umrisslinie des so angedeuteten »Sonnenkreises«. Der Titel deutet Assoziationen an: Es geht ums Zentralgestirn, einmal verpackt in die Morgenröte (die orangerote Schnur!), einmal strahlend offen.
Die Arbeit verdeutlicht die drei Elemente, die Kurator Holger Kube Ventura vom Kunstmuseum zufolge die Arbeiten auszeichnen: Erstens das Spiel mit Material – wobei oft der Gegensatz von edlen und profanen Stoffen den Reiz ausmacht. Zweitens bestimmte Handlungen, die an den Materialien vollzogen wurden – also das, was die Installationen als Relikte von Ritualen erscheinen lässt. Schließlich die Titel, die fast immer auf Landschaftliches, auf Natur oder Kosmos hindeuten. Wobei der Künstler betont, dass damit stets nur eine Möglichkeit der Assoziation genannt werden soll. Jeder Betrachter könne das, was er vorfindet, auch anders deuten.
Und soll es auch. Das Rotieren der Vorstellungskraft will Caravaggio im Kopf des Betrachters in Gang setzen. Und zwar, indem er den Betrachter einlädt, die an den Objekten vollzogenen Handlungen innerlich nachzuvollziehen.
Damit jedoch kehrt der Betrachter zurück an den Beginn des künstlerischen Schöpfungsprozesses. Fast unweigerlich beginnt er beim Betrachten die Messingstäbe innerlich erneut mit Schnur zu umwickeln, in Strahlenform auszulegen.
Fast alle Objekte provozieren ein solches Zurückkehren an den schöpferischen Beginn. Da ist etwa die ausgefranste Blechscheibe, die der Künstler mit den Sternbildern zum Zeitpunkt seiner Geburt durchlöchert hat: Es ist für den Betrachter leicht nachzuvollziehen, dass sie ursprünglich auf dem Boden lag, während Caravaggio Babypuder darauf verstreute. Nun ist sie an einer Seite angehoben und mit einem Stab abgestützt, sodass man darunter schauen kann. Wo sich auf dem dunklen Estrich ein »Sternenhimmel« aus weißen Puderpünktchen abzeichnet. Unweigerlich streut man als Betrachter im Geiste noch einmal Puder aus, hebt die Scheibe an.
Während der Betrachter auf diese Weise zum Beginn des künstlerischen Prozesses zurückkehrt, führen die Objekte ihn inhaltlich zurück zum Ursprung der Welt schlechthin. Ein Haufen aus zerknäuelter Angelschnur wird bei da zum nebelhaft wolkenverhangenen Urgebirge, dessen zackiger Gipfelgrat von einem farbigen Baumwollfaden markiert wird.
Ein massiver Kubus aus Marmor wiederum, schwarz und geheimnisvoll wie aus Stanley Kubricks Kultfilm »2001 – Odyssee im Weltall«, ist von Aufnahmen des Hubble-Teleskops aus den entferntesten (und damit frühesten!) Regionen des Kosmos’ überzogen. An mehreren Seiten ist das leichte, zerbrechliche Fotopapier von dem harten, schweren Stein heruntergerissen wie Geschenkpapier. Was erwartet uns innen? Was ist der tiefere Kern hinter unserem Bild vom Universum?
Tiefschürfende Fragen
Es sind existenzielle Fragen, die Caravaggios auf den ersten Blick so einfach aufgebaute Installationen aufwerfen. Auch jene mit der handartigen Blattform, die sich in einen grünen Granitblock aus Guatemala versenkt hat – ein Werk, das extra für die Reutlinger Ausstellung entstand. Die weiche, veränderliche Substanz des Lebens hat sich ausgebreitet in einem der härtesten, dauerhaftesten Materialien der Welt. Auch diese Arbeit führt zurück in Urzeiten, als auf der noch kargen Erde erstes Grün zu wuchern begann.
Mit seinen Arbeiten wolle er die Betrachter zu einem Staunen des Anfangs führen, sagt Caravaggio. Mit seiner Ausstellung gelingt ihm das in mehrfacher Hinsicht beeindruckend. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Nach fast zwei Jahren gibt es zu Gianni Caravaggios Schau »Als Natur jung war« wieder eine richtige Eröffnungsveranstaltung: an diesem Donnerstag, 30. September, um 19 Uhr im Kunstmuseum/konkret im 2. OG der Wandel-Hallen, Eberhardstraße 14. Geöffnet ist die Ausstellung bis 30. Januar, Dienstag bis Samstag 11 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr, Sonn- und Feiertage 11 bis 18 Uhr. Einen Katalog (130 Seiten, Hirmer-Verlag) gibt es in der Ausstellung für 10 Euro. (GEA) www.kunstmuseum-reutlingen.de