REUTLINGEN. »Ist Ihre Fantasie von Gicht geplagt?«, fragt Roxane den Mann, den sie liebt, als dieser vor ihr steht und nur noch stumpfe Sätze herausbekommt. Sie ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er die Briefe an sie gar nicht geschrieben hat, die ihr Herz so für ihn, den schönen Christian de Neuvillette, entflammen ließen. »Wer solche Locken hat, besitzt Vollendung«, schwärmt sie und bezieht das reichlich naiv auf sein ganzes Wesen, den Körper, den Geist und die Seele.
Nun ist Christian zwar ein Heißsporn, aber einer, der es durchaus ehrlich meint mit ihr und sie liebt. Er gibt einen wunderbaren Ehemann für sie ab. Weil ihm aber die Worte versagen, er sich selbst gar als argen Dummkopf bezeichnet, hilft nur ein Kniff, um Roxane für sich zu gewinnen. »Ich bin dein Geist, du meine Wohlgestalt«, lässt er sich von Cyrano de Bergerac, Roxanes Cousin, überzeugen. »Zu zweit«, meint dieser, »sind wir ein ganzer Liebesheld.«
Cyrano de Bergerac, der Titelheld in Edmond Rostands gleichnamigem romantisch-komödiantischem Versdrama, hat im Frankreich des 17. Jahrhunderts wirklich gelebt. Er schrieb unter anderem zwei fantastische Romane über Reisen zu Mond- und Sonnenbewohnern. Im Stück, das das Theater Die Tonne als Sommertheater im Spitalhof zeigt – am Donnerstagabend war vielbejubelte Premiere – dient er im gleichen Regiment wie Christian von Neuvillette, bei den Gascogner Kadetten. Hier ist er ist es, der mit seinen Liebespoemen Roxanes Innerstes berührt, ohne sich jedoch als Urheber der Briefe und Liebender zu erkennen zu geben.
Fechtszenen mit Roxane
Sein »Nasenungetüm« und die Angst vor Zurückweisung halten ihn ab. Als Roxane Cyrano ihre Zuneigung zu Christian gesteht, ist er bereit, diesen zu unterstützen, indem er an seiner Stelle Gedichte schreibt. Er gibt nicht nur den Ghostwriter für Christian, er leiht ihm – in einer schönen Balkonszene – auch aus einem Versteck heraus seine Stimme und hält den mächtigen Konkurrenten um Roxanes Gunst, Graf de Guiche, im entscheidenden Moment so lange auf, bis Roxane und Christian verheiratet sind. Graf de Guiches Rache lässt nicht lange auf sich warten. Und auch Cyranos Gefühle für Roxane sind längst nicht verflogen, was sich in immer neuen Briefen niederschlägt, die scheinbar von Christian stammen.
Regisseurin Stephanie Rolser und dem Tonne-Team ist ein wunderbarer Theaterabend gelungen, der Edmond Rostands 1897 in Paris uraufgeführtem Versdrama vollauf gerecht wird, obwohl es ein paar Änderungen gibt. Das Figurenpersonal ist auf fünf Charaktere verdichtet. Auch beginnt in der von Rolser und Tonne-Dramaturgin Karen Schultze erstellten Textfassung das Stück mit der Szene, in der Cyrano tödlich verwundet seine Gefühle für Roxane nicht mehr verbergen kann. Das bisherige Geschehen entfaltet sich daraufhin in Rückblenden, die Roxane erzählend miteinander verbindet. Nina-Mercedés Rühl füllt diese Rolle mit liebender Wehmut und großer Leidenschaft aus. An den von Heiner Kock (Christian de Neuvillette) virtuos choreografierten Fechtszenen ist auch sie beteiligt – nach der Pause ist sie als Roxane in einer Hosenrolle zu sehen.
Die Übersetzung von Ludwig Fulda findet Verwendung. Sie beinhaltet heute nur noch selten zu hörende Begriffe wie »Laffe« oder »Geck«. Dass das Ganze poetisch, romantisch und so überaus lebendig und frisch wirkt, ist der Regisseurin, den Schauspielern und der von Andrej Mouline live auf der Bühne gespielten Musik zu verdanken. Seine Akkordeonklänge spitzen das Geschehen auf der von Stephanie Rolser luftig gestalteten Bühne zu, lassen Momente aufblühen oder katapultieren die Zuschauer regelrecht in Welten, in denen die Uhren gefühlt für einen Moment stillstehen. Die stärkste Szene in dieser Hinsicht ist eine Art Fechtballett, das den verstorbenen Christian de Neuvillette, um den alle trauern, noch einmal zurückbringt. Das melancholische, gleichzeitig Trost spendende Lied zu Beginn haben Sebastian Hammer und Regieassistent Tristan Linder einstudiert beziehungsweise arrangiert. Es verstärkt die dem Stück innewohnende Poesie.
Robert Atzlinger gibt einen gleichermaßen selbstkritischen wie wortfechtend-gewitzten und verzweifelten Cyrano. Heiner Kock darf als Christian durch und durch Mann sein, mit allen Widersprüchen. Wolfgang Grindemann stellt als Le Bret dem innerlich blockierten Cyrano die richtigen Fragen, und Sebastian Hammer hat als Graf de Guiche wirklich starke Auftritte. Das Stück ist noch bis 5. August open air im Spitalhof zu sehen. (GEA)