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Aus dem Moment geboren

Die große Sonic-Visions-Festivalnacht führt zu Aufführungen in Kunstmuseum, franz.K und Tonne

Ohne Noten, nur nach den Gesten von Komponist und Dirigent Juri de Marco spielen die Musiker im franz.K: hier Fabian Wettstein (
Ohne Noten, nur nach den Gesten von Komponist und Dirigent Juri de Marco spielen die Musiker im franz.K: hier Fabian Wettstein (links) und Friedemann Dähn. FOTOS: KNAUER
Ohne Noten, nur nach den Gesten von Komponist und Dirigent Juri de Marco spielen die Musiker im franz.K: hier Fabian Wettstein (links) und Friedemann Dähn. FOTOS: KNAUER

REUTLINGEN. Da ist die Reutlinger Kulturmeile mal so richtig zum Ganzen verschmolzen bei der großen Sonic-Visions-Festivalnacht am Samstag. Corona zum Trotz führte dieses Wandelkonzert das Publikum zu Aufführungen im Kunstmuseum/konkret, im franz.K und in der Tonne; bei den Spaziergängen dazwischen durchs herbstlich klamme Reutlingen konnte man das Erlebte sacken lassen.

Corona indes hat diesen Höhepunkt des von Thomas Maos und Friedemann Dähn organisierten Festivals dann doch gebeutelt. Dass es schwierig würde, den Medienkünstler Eric Raynaud aus dem Pandemie-Hotspot Paris herzuschaffen, war früh klar. Das in Berlin lebende Duo Howool Baek und Matthias Erian hingegen saß bereits im Zug nach Reutlingen, als die Nachricht einschlug, dass für Reisende aus Berlin ein »Beherbergungsverbot« gilt. Baek und Erian mussten umkehren, Maos und Dähn improvisieren.

Was insofern passte, als sich das Moment der Improvisation durch den Abend zog. Sicher, jede Aufführung war vorbereitet, vorstrukturiert. Und doch wurde jedes Mal die konkrete Gestalt letztlich erst im Hier und Jetzt geboren.

Gitterspiele im Kunstmuseum

Erste Station: Kunstmuseum/konkret in den Wandel-Hallen. Der Tübinger Timo Dufner ist für Eric Raynaud alias Fraction eingesprungen. Mit seinem Laptop sitzt er direkt vor der Leinwand, wird zum Teil der Strukturen, die da aufflackern. Soll so betont werden, dass hier ein Mann ganz allein alles steuert? Dumpfes Pochen füllt den Raum, Sphärensänge schweben, dazu zucken im Rhythmus gitterartige Netze über die Leinwand, verdichten sich zu treppenartigen Gebilden, die sich ins Nirgendwo schlängeln.

Später sickert durch, dass Dufner lernfähige Software verwendet, deren Tonerzeugungskunst an klassischer Chormusik geschult ist; und dass sich das Pochen echtem menschlichem Herzschlag verdankt. Vorab verraten hat Dufner davon nichts; seine Bilder und Klänge sollten für sich wirken. Mit den Infos hätte man sie aber bewusster wahrgenommen.

Juri de Marco, seit seiner Gründung des Stegreif-Orchesters einer der Hoffnungsträger der jungen Musikszene, spielt hingegen mit offenen Karten bei der Uraufführung seines neuen Stücks später im franz.K. Für seine Kreation »contACT« gibt es keine Noten, wie er erläutert; stattdessen hat er mit den neun Musikern der Württembergischen Philharmonie Gesten und Handzeichen verabredet, die für bestimmte Klangfarben und -muster stehen. Zwischendurch hält er Zettel hoch, um die geforderte Tonart anzuzeigen.

So spielt De Marco als Dirigent mit seinen Gesten auf den vier Streichern, vier Blechbläsern und dem Schlagwerker wie auf einem Instrument – improvisierend wie ein Jazzmusiker. Dazu greift Joshua Lutz am Schaltpult die Klänge auf, verändert sie elektronisch, lässt sie als Echo weiterpulsieren oder wie Irrlichter durch den Raum zischen. Auch das improvisierend, aus dem Moment heraus.

Emotionen im franz.K

Das Ergebnis ist wundersam. Feierliche Klangfelder leuchten; Marschrhythmen drängen voran; dazwischen Zitate aus Barock, Romantik, Jazz, Rock, Blues. In einen Pandemie-Spannungsbogen packt de Marco das. Im ersten Satz nimmt das Infektionsgeschehen mit immer nervöseren Klängen Fahrt auf; der zweite fällt in die Stille einer vom Virus ausgebremsten Welt; der Schlusssatz feiert das Leben, das trotz allem weitergeht.

All das ist emotional packend vom Anfang bis zum Schluss, von den zarten Soli der Streicher über die wagnerartig triumphierende Posaune und dem mystischen Schlagwerkglitzern von Markus Kurz. Im Zentrum aber erhebt sich ergreifend die Trompete von Carl-Friedrich Schmidt mit dem St. James Infirmary Blues, der die ganze Wehmut dieser Pandemiezeit hinausschleudert. Furios!

Weiter in die Tonne. Die Südkoreanerin Howool Baek und ihr Partner Matthias Erian haben nicht resigniert, sondern ihre Performance auf Video gebannt. Was nun im Saal auf Leinwand zu sehen ist. Eine Wunderwelt: Baeks Finger tauchen als Vögel, Spinnen, Schmetterlinge aus dem Dunkel auf; ihre Beine formen Gebirge, ihre Hände Höhlen. Ein Körper als Kosmos. Den Erian wie mit einem Baukasten in ein Raster immer neu über- und nebeneinander gestapelter Bildsegmente fasst. Auch das hätte alles live entstehen sollen – was den Reiz noch mal erhöht hätte.

Live da ist jedoch der kongolesische Künstler Strombo alias Fabrice Kayumba. Zusammen mit Thomas Maos an den Gitarren, Johannes Werner am Schlagzeug und einer Video-Ebene von Wolf Helzle führt er das Stück »Tozo Koma« auf, was in seiner Sprache »Ankommen« heißt. Von oben live gefilmt, scheinen die Musiker auf der Leinwand in einer Naturlandschaft zu stehen.

Raue Töne in der Tonne

Um das Verhältnis von Mensch und Natur geht es unter anderem auch in der Aufführung. Die taucht von Metal-artigen Urschreien Strombos in meditative Sphären ab, mit geflüsterten Worten, afrikanischen Liedern und flötenartigen Windspielen aus einer dünnen Plastikspirale. Im Mittelteil kämpft der Protagonist unter einer Plastikplane um Luft und Raum, ehe am Ende alle ihre Energie in hitzig voranpreschenden Klängen hinausschleudern.

Rockmusik, Experimentalmusik und Tanztheater, Mystisches, Ethnisches und der Klimawandel – alles fließt hier zusammen in einer mitreißenden, rauen, anarchischen Performance. Klasse!

Überhaupt ein denkwürdiger Abend – an dem wegen der Corona-Pandemie leider nur wenig mehr als fünfzig Besucher teilnehmen konnten. Jedoch hält das Festival noch weitere Aufführungen bereit – und ist mit einem Teil seiner Termine ins kommende Jahr gezogen. Mal sehen, ob dann vielleicht nur noch auf der Bühne improvisiert werden muss. (GEA)