TÜBINGEN. Claire sitzt am Schminktisch. Der Spiegel ist zugleich ein Bildschirm, über den »Aktenzeichen XY« flimmert – und damit bei der Premiere am Freitagabend auf der Bühne des LTT nur einen Teil des psychologisch höchst raffinierten Kammerspiels »Die Zofen« von Jean Genet intoniert. Das Dienstmädchen Claire ist die »Gnädige Frau« und Solange ist Claire. Die beiden Schwestern spielen Herrin und Zofe und drücken darin nicht nur die Abneigung ihrer Dienstherrin gegenüber aus, sondern auch die gegenseitige Hassliebe, in der sie gefangen sind.
»Das weiße Paillettenkleid«, befiehlt Claire. »Die Gnädige Frau wird das rote Kleid anziehen«, antwortet Solange und lässt in ihrem doppelten Spiel die Erotik von Macht und Unterwerfung aufschimmern, sowohl was das Verhältnis beider Schwestern ihrer Herrin gegenüber betrifft, als auch, was das Verhältnis der Schwestern untereinander betrifft: »Ich kann die Brust der Gnädigen Frau unter dem Samt nicht vergessen. Wenn die Gnädige Frau seufzt und dem Gnädigen Herrn von meiner Ergebenheit spricht…«
Gefälschte Briefe
Im Spiel eignet sie sich als Herrin das Verbrechen an, das sie als Dienstmädchen tatsächlich begangen hat: Mit gefälschten Briefen hat sie den Ehemann ihrer Herrin ins Gefängnis gebracht. In der Rolle der Gnädigen Frau fantasiert sie davon, ihn auf dem Weg in die Strafkolonie zu begleiten. Während sie sich in die Leidenschaft ihrer Herrin imaginiert, hofft sie gleichzeitig, dass der Schmerz diese umbringen möge, damit sie deren Vermögen erben könne.
Bei der Premiere 1947 wurde Jean Genets Tragödie als Aufstand der Unterprivilegierten interpretiert. Dabei ist das Stück weit vielschichtiger. »Ich lese in deinen Augen, wie du mich hasst«, sagt Claire. »Ich liebe Sie«, antwortet Solange im Rollenspiel, in dem immer auch das Verhältnis der beiden Schwestern mitschwingt. Wie das Findelkind Genet eine Karriere als Poet und Verbrecher einschlug, obwohl er von seinem Ziehvater durchaus liebevoll aufgezogen wurde, so spielen und planen die beiden Schwestern den Mord an ihrer Herrin, obwohl diese großzügig und freundlich mit ihnen umgeht: »So tötet uns die Gnädige Frau mit ihrer Sanftmut. Die gnädige Frau geht uns auf die Nerven mit ihrer Güte.«
Das Spiel endet
Am Ende trinkt Claire den Schierlingsbecher, der ihrer Herrin zugedacht gewesen war. Weil sie ihr unterprivilegiertes Leben nicht mehr ertragen kann? Aus Angst vor dem eigenen Verbrechen? Weil sie mit der symbiotischen Hassliebe zu ihrer Schwester nicht mehr umgehen kann? »Diesmal werden wir das Spiel zu Ende spielen. Du wirst allein unser beider Leben auf dich nehmen. Vergiss nicht, dass du mich in dir trägst.«
Auch wenn Vinzenz Hegemanns Lichtdesign die verschiedenen Ebenen sichtbar werden lässt, wirkt Thorsten Weckherlins Inszenierung etwas eindimensional. Nicht alle Regieeinfälle erschließen sich. Dass die Gnädige Frau als alter weißer Mann auftritt, mag dem Zeitgeist geschuldet sein. Warum es aber ausgerechnet der Selbstdarsteller Harald Glööckler sein muss, wird nicht ganz klar, denn bei Genet ist es gerade die Gnädige Frau, die als Einzige keine Rolle spielt. Und mehr als ein witziger Regieeinfall ist auch die Anspielung auf das örtliche Modehaus nicht. »Kleider machen Leute« – aber diese zeitlose Erkenntnis trifft immer und überall zu.
Mit Leben und Tempo
Leben und Tempo gewinnt die Inszenierung durch das gekonnte Spiel von Franziska Beyer, die Claire in allen emotionalen Facetten auslotet, und von Insa Jebens, die Solange in einer hinreißenden Mischung aus Schüchternheit und Aufbegehren spielt.
Martin Bringmann platzt mit überwältigender Bühnenpräsenz herein, singt und schlängelt sich durch die Zuschauerreihen. Genau wie sein Gesicht hoffnungslos überschminkt ist, gibt die Wucht seines Auftritts dem Spiel eine ganz andere Richtung als sie Genet der Gnädigen Frau mit ihrer besorgten und kummervollen Art zugedacht hat. Die poppige Musik von Jörg Wockenfuß tut ihr Übriges, um aus dem psychologisch raffinierten Kammerspiel eine grelle Showveranstaltung zu machen, die ihren eigenen Charme hat. (GEA)