REUTLINGEN-BETZINGEN. Eine Besucherin der Ausstellung zupft an einem der Kunstwerke, stößt es an, und das Werk – eine Plastik, eine leuchtende Aluminiumgirlande – beginnt zu schwingen. Ist das erlaubt, diese Kunst zu berühren? Sie muss, denn wenig später geht die Künstlerin selbst umher in der Zehntscheuer Betzingens und stößt ihre Werke an, die den Raum um sie her mit schwingender Dynamik füllen. »Spuren in Bewegung« ist der Titel der dritten Ausstellung, die der Förderverein Ortskern Betzingen in der Zehntscheuer veranstaltet, die Künstlerin lebt im Ort: Susanne immer hat ihr Atelier in Betzingen.
Dynamik muss Zentralbegriff der Kunst von Susanne Immer sein, oder besser noch: Energie. Nichts weiter suggerieren die Farben, die sie bevorzugt, und die Formen, die sie kombiniert. Irgendetwas scheint in ihren Arbeiten Gegebenes aufsprengen zu wollen: Hunderte von leuchtend roten Plastikstäben in ungeordneter Formation, die aus Steinen schießen, Gummimatten durchstoßen, sie bedecken wie ein Schwarm leuchtender Fühler.
Freigesetzte Bewegung
In jüngeren Arbeiten von Susanne Immer – sie sind nun zu sehen in Betzingen – scheint dieses Stadium überschritten. Hier hat die Energie sich längst befreit und füllt den Raum. Immers Werke wirken nun oft wie farbige Bänder, hineingeworfen, im Flug erstarrt, Ausdruck einer Bewegung, die über sich hinausstrebt und doch ganz in sich und ihrem Augenblick enthalten ist.
»Bewegung«, sagt Susanne Immer, »ist für mich ein Lebenselixier.« Immer wurde 1963 in Bielefeld geboren, studierte in Braunschweig. Dort, erzählt sie, fanden sich viele stillgelegte Fabrikhallen, in ihnen mitunter noch Maschinen, nicht mehr in Betrieb. Susanne Immer fotografierte in dieser Umgebung – eine Erfahrung, die ihre Arbeit bis heute prägt. In ihren Fotografien fing sie die Industrieanlagen in Ausschnitten ein, schuf bereits Bilder, in denen Kräfte wohnten, die über die Begrenzung der Bildränder hinauszielen. »Ich hatte den Eindruck, dass gleich einer kommt, auf einen Knopf drückt, und alles geht wieder los«, sagt sie.
Richtungswechsel
Das Bild verdichtete sich zum Gedanken, den Immer seither umkreist. »Wenn die Dinge sich im Stillstand befinden – welcher Impuls setzt sie dann wieder in Bewegung?«, fragt sie. »Was sind die Dinge, die uns voranbringen? Dem versuche ich nachzuspüren. Dazu gehört auch, dass man die Richtung wechselt, hin und wieder einmal hinter die Kulissen schaut.«
Ein grenzüberschreitendes Moment ist ihnen allen zu eigen, den federnden Bändern die in der Betzinger Zehntscheuer auf Sockeln sitzen. Und Bewegung erweist sich, von Fall zu Fall, als etwas überaus Charakteristisches, Individuelles. Die Besucher begegnen Aluminiumbändern, biegsam, in Rot, Blau, Gelb lackiert, die als lockere Würfe die Luft bewohnen. Die Künstlerin entwickelt sie aus kleinen Modellen heraus, hat dabei immer eine bestimmte Art der Bewegung, einen Rhythmus vor Augen. Einige der Stücke sind größer ausgeführt, in Stahl, drehen sich als bedächtige Energiewirbel im Raum.
Bitte berühren!
Bewegung, die tatsächlich räumlich wird, fand Einzug in Immers Kunst vor etwa elf Jahren: »Ich habe lange Zeit danach gesucht«, sagt sie. Bewegung beherrscht all ihre Arbeiten seit jeher. Bewegung bestimmt auch die Drucke, die die Plastiken in der Betzinger Zehntscheuer begleiten: Hier ebenfalls die starken Signalfarben, der große Schwung, die Dynamik, die alleine schon durch Überschreiten des Bildraums entsteht.
Julia Berghoff, Leiterin des Reutlinger Kunstvereins, und Antje Vorkerb, als Kunstinteressierte, lasen zur Eröffnung dialogisch einen Text des Reutlinger Autors Bernd Storz – und Susanne Immer forderte dazu auf, ihre Plastiken anzustoßen, den Raum der Zehntscheuer in Schwingung zu versetzen. Mit einer Ausnahme: Eine der Plastiken scheint der Künstlerin selbst so ungeheuer energetisch, dass jede weitere Energie zu viel wäre. (GEA)