REUTLINGEN. Louis Vierne ist gesetzt bei diesem Reutlinger Orgelsommer 2020, der große blinde Symphoniker von Notre Dame de Paris mit seinem sechsteiligen Zyklus. Vor seiner 2. Orgelsymphonie in e-Moll hatte Ursula Herrmann-Lom eine besonders aparte Werkfolge zusammengestellt, die auch den Frauen Raum gab, die im Kanon der Orgelmusik ja noch weniger vertreten sind als unter den Komponisten überhaupt. Die in Reutlingen geborene Virtuosin und Dozentin aus Stuttgart, dort langjährige Kantorin an der Pauluskirche, hat für französische Orgelmusik eine ganz besondere Expertise, hat sie doch ihr Konzertexamen bei Marie-Claire Alain in Paris mit einem Premier Prix d’Excellence abgelegt und danach neben ihrem Literaturstudium an der Sorbonne als Organistin an der Kirche St.Germain-des-Prés gewirkt.
Ironischer Humor
Mit Mendelssohns Schwester Fanny Hensel und einem vielgliedrigen Prelude um ein Choralthema, das sich mit viel Emphase und farbigen Modulationen steigert, begann sie. Als eher filigranen Kontrast ließ Ursula Herrmann-Lom Johann Sebastian Bachs Präludium F-Dur folgen, ganz zärtlich registriert, bevor sie mit der Pièce d’Orgue BWV 572 wieder in die Vollen der Virtuosität und des Klangs ging. Die drei Sätze beginnen mit einstimmiger Geläufigkeit, führen zu einer prächtigen Neapolitaner-Kadenz und sind von Bach als toccatenhaftes Paradestück fürs Instrument und seinen Organisten angelegt.
Kaum einem musikalischen Menschen dürfte Marianne Martinez (1744–1812) noch bekannt sein, die als Tochter eines adligen Wiener Kirchenbeamten offenbar ungewöhnliche Freiräume genoss und mit einigen Kompositionen erstaunlichen Erfolg hatte. Ihr »Moderato« zeigte sich als ein rokokohaft liebreizender Variationensatz von großem Charme. Noch viel mehr als sie steht Germaine Tailleferre in unverdientem Schatten, die 1983 hochbetagt starb und doch immerhin das einzige weibliche Mitglied der großen »Groupe des Six« um Poulenc, Honnegger, Milhaud war. Den spezifischen Ton, immer mit etwas ironischem Humor und frei farbiger Tonalität versehen, hörte man auch dem ruhigen Schweben ihrer »Nocturne« an.
Maximale Kontur
Schon hier setzte die Organistin sehr wirkungsvoll das Schwellwerk ein, das sie auch brauchte, um dem Klanggebirge von Louis Viernes zweiter Symphonie möglichst viel hörbare Struktur zu verleihen. Die Fünfteiligkeit des Werks bildet schon der Allegro-Eingangssatz im Kleinen ab, der freilich schon für sich eine Wucht an Farben, Formen und Volumen ist. Im Choral und Scherzo-Intermezzo zeigt Vierne auch seine Beherrschung der Traditionen, natürlich auch aller kontrapunktischen. Seiner ganzen entgrenzten Fantasie versuchte Ursula Herrmann-Lom mit kontraststarker Registrierung maximale Kontur zu geben. Doch vor dem wogenden Finale, das ganz geheimnisvoll toccatisch beginnt und in triumphierendem Dur endet, neigte das »Cantabile« in den Längen seiner unendlichen Melodie doch zu einer gewissen zähen Ausschweifung.
Das war kein Grund, dass die Organistin vom ihr (nicht nur räumlich) zugewandten Publikum in der coronamäßig gut besetzten Marienkirche nicht besonders langen und herzlichen Beifall bekommen hätte. (GEA)