NÜRTINGEN. Im Jahr 2021 hatten 9,4 Prozent der Bevölkerung laut dem Statistischen Bundesamt eine schwere Behinderung. Zum Vergleich: Nur 4 Prozent der Beschäftigten größerer Kultureinrichtungen sind laut einer Studie des Deutschen Kulturrates körperlich oder geistig eingeschränkt. Von ihnen schaffen es wiederum nur die wenigsten in renommierte Kunstausstellungen. Nicht unbegründet wird die Kunst von Menschen mit Behinderung deshalb als »Outsider-Art«, also »Außenseiter-Kunst« bezeichnet.
Um ihnen eine Bühne zu geben, veranstaltet die Stadt Nürtingen in Kooperation mit der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen/Geislingen (HfWU) ab dem 14. Juni das Kunstfest »Coming In! Wie Kunst uns alle verbindet«. Über einen ganzen Monat rücken verschiedenste Kunstformen, die von Menschen mit Behinderung oder Psychiatrie-Erfahrung geschaffen wurden, in den Mittelpunkt des Fests mit Ausstellungen, Vorträgen und Performances.
Plattform zur Vernetzung
Ein »allumfassendes Kunstprojekt«, wie es der Nürtinger Oberbürgermeister Dr. Johannes Friedrich bezeichnet, auf das die Stadt Nürtingen stolz sein kann. Finanziert wird das Projekt unter anderem aus rund 55.000 Euro Fördergeldern – von der Stiftung Kreissparkasse, der Lechler- und der Beck-Stiftung, der Karin-Abt-Straubinger- und Eberhard-Rommel-Stiftung sowie mit 20.000 Euro von der Baden-Württemberg-Stiftung bei einem Gesamtvolumen im »sechsstelligen Bereich«, wie die Veranstalter im Nürtinger Rathaus bekannt gaben.
Federführend bei »Coming In!« ist neben der Stadt Nürtingen die Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen/Geislingen. Mehrere Veranstaltungen aus dem Programm finden deshalb in den Räumlichkeiten der Hochschule statt. Sie bieten die Möglichkeit, die Hochschule besser kennenzulernen. »Die HfWU bringt ihre fachliche Expertise in das Festival ein. Sie leistet einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag für das Festival und ist eine Plattform zum Vernetzen«, sagt Hochschuldirektor Andreas Frey. »Dass sich eine ganze Stadt für inklusive Kunst engagiert, ist wirklich etwas Neues.«
Nach der öffentlichen Tagung »Kunst im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusivität« am Freitag, 14. Juni, um 14 Uhr in den Räumlichkeiten der Hochschule Nürtingen/Geislingen, zu der Hochschuldirektor Frey, der HfWU-Dekan Tobias Loemke und Professor Hartmut Majer und Kollegen begrüßen, beginnt um 16.30 Uhr die Vernissage zur Ausstellung »Normann Seibold – Malerei und Zeichnung«. Studierende von der HfWU präsentieren expressive Malereien und Zeichnungen des Künstlers Seibold, der in einer Wohngruppe des Samariterstifts Grafeneck in Münsingen lebt.
Gleichzeitig startet am Freitag um 18 Uhr in der Kreuzkirche Nürtingen die Ausstellung »Farben.Froh.Leben!« mit Arbeiten von Künstlern mit Behinderung aus fünf Ateliers der Region Nürtingen.
»Am Anfang war die Idee, die Kunst behinderter Künstler in der Kreuzkirche auszustellen«, erzählt Kunstwissenschaftler Dr. Tobias Wall. Nach einer ersten Sitzung entschied man sich, »das muss mehr werden als nur eine einfache Veranstaltung«, so Wall. Mit der Zeit entwickelte sich das Fest laut Wall zum Selbstläufer.
Großes Eröffnungswochenende
Auch am Wochenende gibt es ein Ausstellungs- und Programmangebot in Nürtingen. Highlights sind hier unter anderem am Samstag, 15. Juni, um 14 Uhr die Ausstellung »Der Ikarus vom Lautertal« von Künstler Gustav Mesmer in der Nürtinger Galerie Forum Türk und in der Galerie FKN sowie um 18 Uhr die Ausstellung »Die Herzen voller Glück« mit Künstlern des Living Museums Alb. Zudem wird es im zweiten Teil der Tagung »Kunst im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusivität« um 9 Uhr eine Podiumsdiskussion mit der Sonder- und Kunstpädagogin Lisa Niederreiter sowie eine Reihe von Fachvorträgen geben.
Zum Abschluss des Eröffnungswochenendes lädt am Sonntag, 16. Juni, ab 11 Uhr die Hildegard und Fritz Ruoff Stiftung zur Ausstellung »weg vom Fenster«. Sie zeigt Arbeiten des Künstlers Thomas Putze, der den Grenzbereich zwischen künstlerischer Schaffenskraft und psychischer Übersensibilität beleuchtet. Und ab Sonntagnachmittag – Vernissage ist um 13 Uhr – zeigt die Bodelschwinghschule Nürtingen im Kulturcafé »SprechZimmer« künstlerische Positionen einer Schülerin und eines Schülers, die über Zeichnungen mit ihrer Umwelt in Kontakt treten und dabei ihren ganz eigenen Stil entwickeln. (GEA)
VERANSTALTUNGSINFO
Alle Veranstaltungen aus dem Eröffnungsprogramm des Kunstfests für Outsider-Art »Coming In!« sowie die Angebote der Institutionen und Galerien sind online auf der Homepage des Fests aufgeführt. Die Teilnahme an der zweitägigen Tagung ist nur mit Voranmeldung möglich. (GEA) www.coming-in-kunst.de