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Apokalypse now

»Das Lied von der Erde«: Die Staatsoper Stuttgart thematisiert mit Mahler und Jelinek den Corona-Stillstand

Überleben in der Endzeitwelt: Evelyn Herlitzius in einer Szene.  FOTO: MATTHIAS BAUS
Überleben in der Endzeitwelt: Evelyn Herlitzius in einer Szene. FOTO: MATTHIAS BAUS
Überleben in der Endzeitwelt: Evelyn Herlitzius in einer Szene. FOTO: MATTHIAS BAUS

STUTTGART. Weltuntergangsstimmung in der Staatsoper. Ein Alien spaziert im Auftrag seines heimatlichen Planeten Approxima Delta auf der Erde herum, um den Grund ihres Sterbens zu ergründen. Nach einem atomaren Supergau hat sich die Menschheit in ihrem Energiebedarfswahn offenbar selbst ausgelöscht. Weil die außerirdische Kreatur eigentlich ein reines Energiewesen ist, nimmt sie »zur Sicherheit die äußere Gestalt der früheren Bewohner an«. Auf der Erde erscheint sie also als Mensch. Auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper schlendert sie burschikos und breitbeinig herum, in schwarzem Plastik-Body und Gummistiefeln. Plastik muss sein, auch daran ging die Menschheit schließlich zugrunde.

»Die Bienenkönige«, ein kleines, prophetisches Prosawerk, das die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek bereits 1978 verfasst hat, eröffnet einen außergewöhnlichen Opernabend. Wer kommt sonst schon auf die Idee, eine Science-Fiction-Story szenisch mit Gustav Mahlers »Lied von der Erde«, inszeniert von David Hermann, zu kombinieren?

Mahler zu Science-Fiction

Aber das funktioniert ausgesprochen gut. Zunächst, weil die Schauspielerin Katja Bürkle Jelineks Erzählung äußerst subtil und eindringlich als Monolog spielt. Ja, so intellektuell kühl und sezierend können Aliens sein, so schön zynisch und mephistophelisch. Zudem gelingt es auf den Punkt, Jelineks musikalisch rhythmisierte Prosa in den Sog von Mahlers Tonsprache münden zu lassen. Auch inhaltlich: Denn die Außerirdische stößt auf ihrer Suche nach zivilisatorischen Spuren auf vier Überlebende, die sich nunmehr die beiden Solopartien des »Liedes von der Erde« teilen werden – einsame, auf den Hund gekommene Kreaturen in leidlich aus Plastik zusammengeschusterten Lumpen (Kostüme: Claudia Irro und Bettina Werner).

Nach dem Supergau hatte sich nämlich eine Elite aus männlichen Wissenschaftlern retten und einen unterirdischen, hoch technisierten Sklavenstaat aufbauen können: Frauen hatten den Männern von nun an entweder zur Zerstreuung zu dienen oder als Gebärmaschinen. Wegen eines Gendefekts konnten die Frauen ausschließlich Söhne zur Welt bringen, die die Regierenden wiederum als Sklaven missbrauchten. Erst die Geburt eines Mädchens brach das System. Frauen und Söhne soldarisierten sich und töteten die Machthaber.

Natur als ferne Erinnerung

Natur, Lebensfreude, Hoffnung erscheinen auch in Mahlers »Lied von der Erde« nur noch als Erinnerung an sehr ferne Zustände. Fatalismus, Verzweiflung, Einsamkeit, Resignation herrschen vor. Das Leben zeigt sich hier als ein langer Abschied. In diesem Zwitterwerk aus Sinfonie und Liederzyklus muss selbst ein Trinklied »vom Jammer der Erde« handeln. Immer wieder wird resümiert: »Dunkel ist das Leben, ist der Tod.« Fröhlich stimmt der Abend natürlich nicht gerade. Denn schon liegen wieder Schließungen der kulturellen Einrichtungen in der Luft wegen der steigenden Infektionszahlen. Es ist ein Jammer. Mit Mühe und Not haben Theater, Opernhäuser, Kinos in den letzten Monaten die strikten Hygienevorgaben penibel umgesetzt, immer wieder den neuen Regeln angepasst, ihre Häuser zu den virensichersten Orten ihrer Städte gemacht.

Die Mahler-Jelinek-Premiere in der Staatsoper zeigt, wie produktiv, kreativ und flexibel damit zuweilen umgegangen wird, bei aller Verzweiflung. Gespielt wird nämlich im Rohbau von Jo Schramms Bühnenbild für Richard Strauss’ »Frau ohne Schatten«, die eigentlich an diesem Abend als Premiere vorgesehen war – ein Werk, das zu monströs ist für die Bühnen-Hygienevorschriften.

Es ist erstaunlich, wie gut das unfertige Bühnenbild zu Jelineks apokalyptischer Erzählung passt: eine Art Wasserwerk zur Stromerzeugung, ein riesiges Becken, leer bis auf ein paar Kanister und Müllsäcke, eine brachliegende Turbine.

Dem Torso auf der Bühne entspricht das ausgebeinte Orchester im Graben. Denn natürlich wird nicht die Originalpartitur des riesig besetzten »Liedes von der Erde« gespielt, sondern eine Bearbeitung für Kammerorchester von Arnold Schönberg (vollendet 1983 von Rainer Riehn). In einem großen Opernhaus stößt die Bearbeitung auf akustische Probleme, die man nicht wegdirigieren kann. Mahler setzte alle ihm zur Verfügung stehenden orchestralen Mittel ein, Schönberg setzte aus den pragmatischen Gründen einer Aufführung im sehr kleinen Rahmen auf das Allernötigste. Mehr Struktur als Klang. Und die Abstandsregeln im Graben machen das Ganze noch zerbrechlicher. Jede noch so mickrige Intonationstrübung ist zu hören, jede kleinste Balanceschwankung. Generalmusikdirektor Cornelius Meister sagt mit vollem Körpereinsatz dem Auseinanderfallen des Klangs den Kampf an. Oft genug mit Erfolg.

Das Gesangsquartett gibt alles

Das singende Quartett auf der Bühne gibt alles – musikalisch wie darstellerisch. Manchmal gesanglich mit zu viel Kraft, wie Evelyn Herlitzius, die zudem die Vokale zu sehr eindunkelt auf Kosten der Textverständlichkeit. Gelegentlich geraten dem ansonsten expressiv und schön singenden Tenor Thomas Blondell die Hochtöne etwas matt. Simone Schneider und Martin Ganter erfreuen durch beides: Präzision und Ausdruck.

Das Ende bleibt rätselhaft. Zu Mahlers zehnminütiger, langsam ersterbender, ewigkeitsbeschwörender Coda erscheint noch einmal der Alien, jetzt in einem insektenartigen Panzerkleid. Ein riesiges, illuminiertes Facettenauge wird von oben herabgelassen, während die vier Überlebenden – platziert nun auf der Turbine, die erstmals knarrend in Gang kommt – langsam ihre Runde drehen. Hoffnung auf Erlösung und Verwandlung zu alienartigen Energiewesen? (GEA)