REUTLINGEN. »Der Chor« heißt der neue Roman von Anna Katharina Hahn - und ein Chor eröffnete den Auftritt der Stuttgarter Autorin am Freitagabend in der Reihe »Literatur im Gespräch«. Feierliche Barock-Klänge füllen die ausverkaufte Stadtbibliothek mit Claudio Monteverdis »O stellae coruscantes«. Der Kammerchor Reutlingen schafft mit seinem Leiter Marcel Martínez Bonifacio Klänge voll Feinheit und Transparenz.
Der Chor im Buch bewege auf anderem Level, greift Moderator Wolfgang Niess den Faden auf. Da werde auch mal »Marmor, Stein und Eisen bricht« geschmettert. Die Autorin wiederum, Blousonjacke, kniehohe Stiefel und das bei ihr übliche Flatterhaar, räumt ein, völlig unmusikalisch zu sein: »Ich schmettere nur unter der Dusche und in der Küche.« Auf einen Chor als Thema sei sie in der Coronazeit gekommen, als sie mitbekam, welche Schmerzen es Chorsängerinnen in ihrem Freundeskreis verursachte, nicht mehr proben zu können.
Einen Stuttgarter Frauenchor hat Hahn ersonnen, der ausschließlich Lieblingslieder seiner Mitglieder singt. Ein Mikrokosmos, dessen Beziehungsgeflecht die Autorin ins Schwanken bringt - nicht zuletzt, indem eine ältere Mitsängerin zum Pflegefall wird. Detailversessen (»Ich hab's gern exakt!«) porträtiert sie die Stuttgarter Bildungsbürgerschicht - und führt vor, wie die Damen reagieren, wenn plötzlich jemand aus dem Prekariat in ihre Reihen gerät.
Zerwürfnis zweier Freundinnen
Niess moderiert das mit sympathischer Verschmitztheit, räumt ein, dass er hier und da auch mal was nicht so recht verstanden hat. Etwa den Grund für das Zerwürfnis der Hauptfigur Alice mit ihrer extrovertierten Busenfreundin Marie. Letztlich nur eine Lappalie, wie Niess meint, oder doch ein großes Ding, wie Hahn beharrt? Männerblick, Frauenblick, Schmunzeln im Publikum.
Solches gibt es öfter, obwohl der Roman keine Komödie ist. Im Gespräch beleuchten Hahn und Niess die zahlreichen Charaktere. Wobei Hahn es freut, dass Niess besondere Sympathie für die Unterschichts-Außenseiterin bekundet. In endlosen Skizzen nähert sie sich ihren Figuren. Szenen, von denen im fertigen Roman oft nichts oder wenig bleibt. »Aber das ist trotzdem irgendwie alles da«, versichert sie. Und gibt ihren Personen und Szenen Tiefe und Realität.
Zwischendurch meldet sich der Kammerchor mit Mendelssohns »Abschied vom Walde«, am Ende mit einer Mörike-Vertonung von Hugo Distler (»Ein Stündlein wohl vor Tag«). Alles sehr edel ausgebreitet, ein bisschen mehr Kante hier und da hätte nicht geschadet. Egal, die Kombination von Chor-Roman und Chor-Musik war sehr charmant. (GEA)