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Aktuell Ausstellung

Ankläger gegen den Krieg

Erfinder des Bildromans: Das Kunstmuseum zeigt im Spendhaus eine Retrospektive zu Frans Masereel

Masereels Holzschnitt »Les Poètes contre la guerre«
Der Künstler engagiert gegen Gewalt: Masereels Holzschnitt »Les Poètes contre la guerre« (»Dichter gegen den Krieg«) als Titelblatt einer pazifistischen Schrift. FOTO: VG BILD-KUNST
Der Künstler engagiert gegen Gewalt: Masereels Holzschnitt »Les Poètes contre la guerre« (»Dichter gegen den Krieg«) als Titelblatt einer pazifistischen Schrift. FOTO: VG BILD-KUNST

REUTLINGEN. Großstadtvisionen, Menschen hungernd oder in Waffen, auf den Barrikaden oder auf der Anklagebank: Es ist eine Flut von Szenen, die über den Besucher des Spendhauses von diesem Donnerstag an hereinbricht. Frans Masereel heißt der Mann, den das Kunstmuseum an diesem Standort auf drei Etagen mit einer großen Retrospektive ehrt. Die Spezialität des 1889 geborenen Belgiers, der 1972 im südfranzösischen Avignon starb, sind Bilderfolgen und ganze Bücher aus Holzschnitten in hartem Schwarz-Weiß. Bildserien, die Geschichten erzählen – fast immer hochpolitisch.

Mit seinen Bildfolgen in Buchform gehört Masereel zu den Wegbereitern des Comic-Romans, der »Graphic Novel«. Viele Graphic-Novel-Schöpfer haben sich auf ihn berufen, auch in Art Spiegelmans Holocaust-Aufarbeitung »Maus – Die Geschichte eines Überlebenden« ist sein Einfluss spürbar. Wobei Masereel stets Distanz zum Comic hielt: Es gibt keine Sprechblasen, nicht die typischen Umrissfiguren, nicht die Bildkästchen: Jede Buchseite zeigt ein einziges Bildmotiv, wodurch die Bildfolgen eher wie in Buchform gepackte Mappenwerke wirken.

Prägend als Karikaturist

Dennoch, ein Pionier in diesem Feld ist er allemal. Die politische Karikatur hat er gleich mitgeprägt. Vor allem in seiner frühen Zeit spielt sie eine zentrale Rolle. Diese Phase breitet Kunstmuseums-Vizeleiter Rainer Lawicki als Kurator im Erdgeschoss aus. Hier kann man verfolgen, wie Masereel erst locker gesellschaftliche Szenen skizziert: ein Markt in Tunis, eine katholische Prozession zu Hause, mit Ölkreiden, mit Tusche, als Radierung.

Doch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs wird er zum Pazifisten. Er geht nach Genf, schließt sich dem Roten Kreuz an, wettert in leidenschaftlichen Karikaturen gegen den Krieg, gegen Polizeigewalt, gegen soziale Ungleichheit – etwa in der Zeitung »La feuille« (Das Blatt).

Noch im Medium der Zeitungsillustration drängen seine Motive zur durcherzählten Bilderfolge. Seine 1920 in der Zeitung gedruckte Serie »Histoire sans parole« (Geschichte ohne Worte) schildert, wie die personifizierte Idee des Friedens von Kriegsgewinnlern und Großkapitalisten vereinnahmt wird. Während die Masse der Arbeiter hungert und darbt.

Es ist dieser engagierte, politisch Stellung beziehende Ansatz, der Masereel mit HAP Grieshaber verbindet. Mit Grieshaber gehört Masereel auch zu den Gründern der Holzschneidervereinigung Xylon, deren deutsche Sektion ihren Sitz in Reutlingen hat – mit Kunstmuseumsleiterin Ina Dinter als Vorsitzender.

Erzählende Bilderfolgen

Früh drängt es Masereel über die politische Karikatur hinaus. Seine Bildromane entfalten ohne Worte literarische Bögen – gehören doch Schriftsteller wie Stefan Zweig oder Romain Rolland zu seinem engsten Freundeskreis. Dicht und emotional breitet er das Leben des Menschen in der Großstadt aus, zwischen privaten Sehnsüchten und politischen Zwängen. Angesichts des Krieges lässt er die Toten sprechen (»Les morts parlent«). In »Passion eines Mannes« folgt er dem Leidensweg eines Außenseiters bis zum Schafott.

Das erste Obergeschoss zeigt Masereel in den 1920er- und 1930er-Jahren als populären Großmeister der erzählenden Grafik. Seine Bildfolgen und Bildromane lösen sich nun oft von der unmittelbar politischen Anklage, lassen symbolhaft Lebensläufe vorüberziehen.

»Mon livre d’heures« (»Mein Stundenbuch«) folgt, durchaus autobiografisch, einem Mann in der Großstadt zwischen Aufbruch und Einsamkeit, Liebe und Enttäuschung. Er rettet eine Frau vor dem Ertrinken, schützt ein Kind vor Misshandlung, weint um die gestorbene Geliebte, findet sein eigenes Ende in paradiesischer Natur. Eine andere Folge zeigt die Geburt einer Idee, die dem Künstlerkopf als Frauengestalt entsteigt. Nackt und bloß schickt ihr Urheber sie in die Welt – wo sie ob ihrer Nacktheit aneckt. Mit einem Trickfilmer hat Masereel das Motiv als frühen Animationsfilm gestaltet – auch dieser ist in der Schau zu erleben; die Musik hat kein Geringerer als Arthur Honegger beigesteuert. Die Ästhetik Masereels beeinflusste damals expressionistische Filme wie Robert Wieners Horrorklassiker »Das Kabinett des Dr. Caligari« – und ist ihrerseits vom Stummfilm inspiriert.

Chronist der Großstadt

Die 1920er/1930er zeigen Masereel auch als Chronisten der Großstadt. Mondäne Tanzbälle, herausgeputzte Großbürger, schrille Typen – alles läuft hier auf. Wie in seinen Bildromanen bedient sich Masereel auch hier verschiedenster stilistischer Anleihen: Das kurvig Ornamentale des Jugendstils, die harten Zacken des Expressionismus, die säulenartigen Vertikalen der Gotik, die geometrischen Brechungen des Kubismus – Masereel zitiert all das souverän, um seine Szenen plakativ auf den Punkt zu bringen.

Zwischendurch wendet er sich vom Stadtleben ab, lässt in Bildern das Meer vorüberziehen, einen Seemann von einer Nixe träumen. Dann ist der Krieg wieder da und mit ihm die Kriegsanklage. Masereel, der seit 1922 in Paris lebt, flieht vor den Nazis nach Südfrankreich. Seine Anklage wird schärfer denn je – zu sehen im 2. Obergeschoss, etwa mit einem Heiligen Sebastian von 1951, durch dessen Körper eine Fliegerstaffel donnert.

Doch er verbreitet auch Hoffnung, feiert nach dem Krieg Leben und die Jugend. Seine Zukunftsvision »Okay« von 1965 allerdings zeigt eine Großstadt, die von Wolkenkratzern, Autobahnen und Konsumterror verschlungen wird – gekrönt von einem Hubschrauber mit Hakenkreuz-Rotor. Erschreckend, wie aktuell sich seine Vision heute anfühlt. (GEA)

 

AUSSTELLUNGSINFO

Die Ausstellung »Frans Masereel – Es gibt keine schönere Farbe als das Schwarz« ist am Spendhaus-Standort des Kunstmuseums Reutlingen von diesem Donnerstag an bis 10. April 2022 zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Samstag 11 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr, Sonn- und Feiertage 11 bis 18 Uhr. Heiligabend, Silvester und Karfreitag ist geschlossen. (GEA) www.kunstmuseum-reutlingen.de