REUTLINGEN. Es ist fast ein bisschen unheimlich, wenn man derzeit die andere Ausstellung des Kunstmuseums Reutlingen in den Wandel-Hallen betritt: die in der konkreten Abteilung im 2. Obergeschoss. Dort trifft man nämlich auf Fotokunst, die aussieht, als würde sie die Corona-Krise behandeln. Tut sie aber eigentlich gar nicht. Die Bilder der Ausstellung »An Ort und Stelle. Fotografie des Gegenwärtigen« hingen schon vor der Virenkrise dort. Die Schau sollte im April enden, wurde aber wegen des Corona-Shutdowns bis 16. August verlängert.
Zu Recht, denn nun sieht man die Arbeiten noch mal ganz anders. Julian Faulhabers leere Räume, die aussehen wie Spielzeugmodelle – sie könnten nun auch Räume während eines Shutdowns sein. Säle, Restaurants, Empfangstheken, die plötzlich keine Funktion mehr haben, weil ein Virus alles gestoppt hat.
Noch drastischer der Bezug bei Mareike Foecking: Sie zeigt mit Sperrholzplatten verrammelte Markenshops. Boutiquen von Gucci oder Louis Vitton – vernagelt, abgeriegelt. Das Schöne, Glamouröse – plötzlich unerreichbar. Stattdessen prallt der Blick auf Absperrungen. Ist das nicht ganz die Corona-Welt? Oder Barbara Probsts raffinierte Bildkonstruktionen mit derselben Szene aus verschiedenen Blickwinkeln. Menschen in Distanz, rätselhaft getrennt, dem Zugriff entzogen. Da schwingt unterschwellig eine Beunruhigung mit, wie man sie auch als Hintergrundrauschen der Pandemie spürt.
Sechs Wochen lang waren die Wandel-Hallen selbst eine surreal leere Welt wie auf einem Foto von Julian Faulhaber. Auch eine Etage tiefer, wo der Kunstverein residiert. Die Ruhe habe auch was Gutes gehabt, sagt dessen Leiterin Imke Kannegießer. Seit sie neu nach Reutlingen kam, musste sie sich erst in alles hineinarbeiten. Da türmte sich einiges, was sie nun abarbeiten konnte.
Aber auch sie freut sich über den Kontakt zu Besuchern, der nun wieder möglich ist. »Als wir aufmachten, stand die erste Besucherin schon fünf Minuten vorher da.« Insgesamt sei der Besuch aber im Moment noch verhalten. Die Leute müssten sich an die neuen Möglichkeiten wohl erst wieder herantasten, schätzt sie. Die Ausstellung hier mit Arbeiten Reutlinger Künstler ist wegen der Corona-Pause bis Mitte August verlängert worden wie die Fotoausstellung oben. Der zweite Teil der Schau im Untergeschoss musste jedoch wegen der neuen Ausstellung von Constanze Vogt beendet werden (siehe oben).
Ende Juni ist »Schichtwechsel«
Also hat sich Kannegießer ein Schichtwechsel-Modell einfallen lassen: Die aktuell ausgestellten Werke bleiben bis 28. Juni zu sehen, dann wird getauscht. Vom 4. Juli an bis 16. August sind hier dann die Arbeiten ausgestellt, die bisher in der Kunstmuseumsgalerie im Untergeschoss waren. Die kleine Sonderschau zu Anna und Erich Mansen in einer Bucht des Raums bleibt durchgehend zu sehen.
Merkwürdiger Zufall, dass im Zentrum dieser Schau »Kunst Reutlingen« momentan eine große Acrylmalerei von Friederike Just den Raum beherrscht, auf dem dämonische Gestalten Mund und Nase corona-konform vermummt halten. Obwohl lange vor Corona entstanden, spricht aus dem Bild genau die alptraumhafte Beunruhigung aus der Zeit, als die erste Virenwelle heranrollte.
Davon abgesehen bietet die Schau ein zauberhaftes Panoptikum, was Kunst alles sein kann. Da schwebt Textiles körperhaft in der Luft (Annika Bolsinger-Rösch), saugen schwarze, eingeschnittene Holzplatten den Blick in dunkle Tiefen (Tanja Niederfeld), öffnen maskenartige Kartonstücke Fenster in fremdartige Welten (Esther Rollbühler), hängt Malervlies wie Quallententakel von der Decke (Annette Hecht-Bauer), beschwören Holzkörper das Fruchtige überm industriegrauen Estrich und vieles mehr. Dazwischen die Zeichnungen von Anna und Erich Mansen, Liniengeflechte als Seismografen des Inneren. Schön, dass diese Schätze wieder zugänglich sind. (GEA)
WEITERE AUSSTELLUNGEN IN DEN WANDEL-HALLEN
»Kunst Reutlingen« und »Fotografie des Gegenwärtigen«
Der Kunstverein Reutlingen im 1. Obergeschoss der Wandel-Hallen zeigt bis 28. Juni einen Teil der Ausstellung »Kunst Reutlingen & Anna und Erich Mansen«
Das Kunstmuseum/ konkret im 2. Obergeschoss zeigt bis 16. August die Ausstellung »An Ort und Stelle. Fotografie des Gegenwärtigen«