ULM . Verdi kommt schnell zur Sache. Spart sich die Ouvertüre, verliert keine Zeit, um seinen Helden ins Verderben zu stürzen. Eigentlich gäbe es was zu feiern, denn Otello (Rodrigo Porras Garulo) kehrt nicht nur als Sieger aus der Schlacht zurück, sondern auch als frisch vermählter Liebender. Seine Desdemona (Maryna Zubko) ist ihm alles. Doch statt Siegesrausch gibt's Sturmgetöse, Verdi lässt das Orchester donnern, kreischen und wogen. Großartig, spektakulär, was Felix Bender mit den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen des für eine derartige Monster-Partitur nicht eben überbesetzten Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm macht.
Drama, Adrenalin, Special Effects: Alles drin, wie im Film. Der Chor, eine leicht zerlumpte Hafen-Gang, begrüßt seinen heimkehrenden Helden. Irgendwo zwischen Verehrung und böser Vorahnung, räumlich zuletzt ganz vorne an der Bühnenkante - welch brachialer Sound. Nach fünf Minuten weiß man, wo die Reise hingeht, auch wenn man dieses »Drama lirico«, mit dem der Komponist so lange gerungen hat, noch nie gesehen hat. Verdis Spätwerk ist große Oper, Regisseur Kai Pflüger macht daraus großes Kino - nicht nur auf der Bühne, sondern auch in Otellos Kopf. Was wie ein Actionfilm beginnt, verwandelt sich rasend schnell in ein alptraumhaftes Psychodrama. Schuld daran ist Jago (Dae-Hee Shin), »gemein von Geburt«, wie er sich selbst beschreibt. Ein Meister der Manipulation, ein Mephisto, der lustvoll virtuose Intrigen spinnt, gute Menschen gegeneinander aufhetzt und ins Verderben stürzt.
Opfer seiner eigenen Eifersucht
Tot ist am Ende Desdemona. Das wahre Opfer aber ist Otello. Der Held, der nicht nur Opfer einer Intrige, sondern seines eigenen Stolzes wird. VerführerJago hat leichtes Spiel, Misstrauen ist schnell gesät, und manchmal ist Otello nahe dran, selbst zu kapieren, wem und was er da gerade aufsitzt. »Der Verdacht ist schlimmer als das Vergehen selbst«, singt er an einer Stelle. Die wahre Erkenntnis bleibt aus, die Eifersucht ist schneller, Otello lässt sich nach Herzenslust von ihr fressen. Er glaubt Schein-Beweisen - dem berühmten Taschentuch, das für den Ehebruch steht - und besoffenen Pseudo-Zeugen mehr als seiner eigenen Frau.
Tanja Hofmann spiegelt all das in ihrem vieldimensionalen Bühnenbild. Es verzichtet, wie auch die Kostüme, auf historisch Konkretes. Venezianische Flotte, Zypern? Spielt alles keine Rolle - ebenso wenig wie Otellos Hautfarbe, der »Mohr« ist nicht »Mohr«, er ist ganz einfach Mensch im Ausnahmezustand. Die Kulisse ist zeitlos, eine Dystopie: schwarzer Beton - vielleicht eine Hafenmauer, ein Bunker, ein Wasserturm? -, der immer wieder zur Projektionsfläche wird. Für das tosende Meer, aber auch für die Bilder in Otellos Kopf: Er malt sich aus, was Desdemona mit seinem angeblichen Rivalen Cassio (Markus Francke) wohl angestellt haben mag.
Desdemona ist die wahre Heldin
Kai Pflüger spielt auf dieser düsteren Leinwand effektvolles Lichttheater: Verräter und Helden holt er mit langen Schatten ein. Nur eine Heldin - die einzige - taucht er in ein Licht, das so warmherzig und mitleidsvoll ist wie die Figur selbst: Desdemonas Ort ist nicht die schwarz-graue Männerwelt, sondern ein schäbiges Gewächshaus, das aus der Betonwüste hervorleuchtet, golden und heimelig. Ein Paradies mit milchigen Scheiben, in dem sie Äpfel pflückt und ans Volk verteilt, das ihr, treu ergeben, huldigt wie einer Göttin. Desdemona ist die Reine, die Unschuld. In roten und weißen Kleidern kämpft sie für die Liebe, für sich und Otello, um am Ende neben ihrem Brautkleid liegend zu sterben.
Der vierte Akt ist ein Requiem. Tanja Hofmann fährt dafür einen massiven schwarzen Kubus auf. Ehebett, Totenbett, Gruft. Was für ein starkes Bild am Ende einer starken Inszenierung, an der alles stimmt. Das gilt auch für die Besetzung sämtlicher Haupt- und Nebenrollen. Rodrigo Porras Garulo ist ein testosteronstrotzender Otello, ein vom Ruhm verwöhntes Alphatier und ein tragischer Mensch, der kopflos Rache schwört, seine Frau eine Hure schimpft und am Ende an sich selbst verzweifelt. Verneigung - da geht eigentlich nicht mehr, weder stimmlich noch schauspielerisch. Das gilt auch für seine Desdemona: Maryna Zubko holt sie aus der Weibchen- und Opferrolle und macht sie zur wahren Heldin der Geschichte, die Otello im Ehekrach in alle Würde die Stirn bietet.
Dass ein kleines Theater wie das in Ulm auch große Oper kann, hat es in der vergangenen Spielzeit mit einem großartigen, weit über die Region hinaus beachteten »Parsifal« bereits unter Beweis gestellt. Dieser »Otello« steht dem in nichts nach. Am Ende gab es Standing Ovations für die Premiere - völlig zu Recht. (GEA)