TÜBINGEN. Die ersten Stunden des Krieges hat Yana verpennt. Mit Freunden hatte sie am 23. Februar 2022, dem letzten Abend im Frieden, im Zentrum von Kiew Party gemacht. Der drohende russische Angriff lag zwar schon wie ein Schatten über dem Land, aber wirklich damit gerechnet haben die wenigsten. Yana schon. »Ich hatte fürchterliche Angst, aber mein Freund meinte, das könne nicht passieren. Das wäre doch wahnsinnig«, erzählt die 28-Jährige. Um drei Uhr morgens seien sie und ihr Freund daheim angekommen und sofort schlafen gegangen. Um vier Uhr beginnt der Angriff. Stunden später versucht ihr Lebensgefährte, Yana wachzurütteln. »Es hat angefangen.« »Was hat angefangen?« »Der Krieg.«
Über dem Haus, in dem sie leben, fliegen Raketen. Auf ihrem Handy sind unzählige WhatsApp-Nachrichten und Anrufe der Eltern. Sirenen heulen.
Yana lebt heute mit Mutter, Tante und zwei Hunden in Tübingen. Mit ihren langen blonden Haaren, der Mütze und den Sneakers sieht sie aus wie Hunderte andere Studentinnen oder eine der Touristinnen, die vor der Neckarfront posieren. Wenn sie vom Kriegsausbruch und der Flucht erzählt, klingt das ein bisschen wie ein Film. Doch einer, bei dem das Ende noch offen ist. Sie hatte sich ein anderes Leben erträumt. Yana baute neben ihrem Studium eine kleine Agentur auf, bei der man Segeljachten für Ausflüge oder Geburtstage mieten konnte. Bilder zeigen sie, wie sie auf Schiffen dem Dnipro posiert. Der Krieg zerstört den Traum.
Nur noch ein Ziel: Der Luftschutzkeller
An jenem ersten Kriegsmorgen verfällt die Journalistikstudentin in Hektik. Mechanisch sammelt sie Wasser in Bottichen, klebt mit Paketband die Scheiben ihrer Wohnung ab. »Ich wollte auch Geld abheben«, erinnert sie sich. Aber die Schlange vor dem nächsten Geldautomaten war hunderte Meter lang. Yana leiht sich umgerechnet 300 Euro von Freunden. Dann will sie nur noch eins: In den Luftschutzkeller. Ihr Freund, ein Filmemacher, weigert sich erst, nennt sie panisch, die beiden streiten. Schließlich huschen sie im Schatten der Häuserwände zum Schutzraum unter einer nahe gelegenen Schule. Drei Tage bleiben sie dort. Schlafen wie die anderen nur mit einer Decke auf dem harten kalten Fußboden. Immerhin gibt es Strom und Internet. Yanas Freund will sich sofort bei der Armee melden. Sie erinnert sich, dass sie ihn angefleht hat, bei ihr zu bleiben.
»Am Straßenrand standen zerstörte russische Panzer«
"Wir hörten Maschinengewehrfeuer", erinnert sich Yana. Und immer wieder Explosionen. Kiew ist ein einziges Verkehrschaos, U-Bahnen, Busse und Straßen sind überfüllt. Ihr Vater holt Yana, ihren Freund und dessen Mutter ab, um sie zu den Großeltern zu bringen, die rund 50 Kilometer entfernt von Kiew in einem Dorf leben. Yanas Mutter und ihr Mann sind bereits dort. »Am Straßenrand standen zerstörte russische Panzer«, erinnert sich Yana an die Autofahrt. Sie merkt, das sie kopflos gepackt hatte. "Vor allem Kosmetik habe ich eingesteckt", sagt sie und schüttelt den Kopf. Natürlich die Dokumente, Handy, Laptop. Aber kaum Kleidung. Im Dorf bei den Großeltern heulen keine Sirenen – dort läuten die Glocken.
Yana will weg
Bei den Großeltern folgen lange Diskussionen. Gehen oder bleiben? Yanas Vater fährt sofort nach Kiew zurück, er will sich bei der Armee melden. Die Großeltern wollen bleiben, komme was wolle. Yanas Mutter und ihr Mann hoffen, schon bald zurückkehren zu können. Doch die Front rückt bis auf sieben Kilometer ans Dorf. Ein Nachbarort ist bereits russisch besetzt, Frauen und Kinder, die mit einem Bus flüchten wollen, seien beschossen worden, hört Yana. Auch Geschichten von Vergewaltigungen machen die Runde.
Yana will weg. »Dann gehe ich eben alleine.« Doch die Mutter will ihr einziges Kind so nicht ziehen lassen. »Ich komme mit.« Mit dem Zug fahren die beiden nach Lwiw in die Westukraine. Für die Strecke, die sonst fünf Stunden dauert, braucht der hoffnungslos überfüllte Zug ganze 13. Als sie abends um 21 Uhr dort ankommen, hat die Ausgangssperre schon begonnen. Yana kontaktiert im Internet alle, die sie irgendwie kennt. Eine Freundin in Polen bietet ihr eine Unterkunft an. Tatsächlich ergattern die beiden Frauen noch zwei Plätze im letzten Bus nach Polen.
Geschichtsstudent aus Tübingen hilft
Nach der Grenze versorgen Freiwillige die Geflüchteten mit Essen, Trinken, Kleidung, Schmerzmittel, Tampons. Endlich gibt es auch wieder Toiletten. Die erste Nacht verbringen sie in einem Flüchtlingslager. Am nächsten Tag schickt die Tante eine Nachricht: Ich komme auch und bringe die Hunde mit. Yana und ihre Mutter schlagen sich nach Krakau durch zur Freundin. Doch schnell wird klar: Es gibt keine Arbeit dort und schon so viele ukrainische Geflüchtete. Dann vielleicht nach Spanien, wo Verwandte eine Bleibe angeboten hatten. Doch als Yana sich meldet, leben dort schon andere Familienmitglieder.
Yanas früheres Leben war ziemlich sorglos. Sie ist viel gereist. »20 Länder hatte ich schon besucht«, sagt sie stolz. Auf einer ihrer Touren hat sie in Ungarn einen Geschichtsstudenten aus Tübingen kennengelernt. »Wir haben uns immer mal wieder geschrieben.« Er bietet ihr an, nach Tübingen zu kommen. Mutter und Tante willigen nach langem Zögern ein. Am nächsten Morgen steigen sie am Tübinger Bahnhof aus dem Zug. Sie fragen nach einem Aufnahmelager. Immer wieder schaut Yana auf die Zivilschutz-App, die die Bewohner von Kiew vor neuen Angriffen warnt.
»Ich arbeite 60 bis 70 Stunden im Monat für Tünews«
Die erste Zeit in Tübingen verbringen sie in der Flüchtlingsunterkunft in der Tübinger Kreissporthalle. Der Hund muss ins Tierheim, die Tante ist verzweifelt. Schnell lernen sie, was eine Aufenthaltserlaubnis, ein Jobcenter und eine KreisBonusCard sind. Sie eröffnen ein Konto, melden sich bei der Krankenkasse an und versuchen, sich in der fremden Welt zurechtzufinden. Nach drei Wochen vermittelt ihnen die Sozialarbeiterin aus der Kreissporthalle die erste Wohnung in Unterjesingen, später folgt der Umzug nach Hagelloch, wo sie bis heute leben.
Yana findet schnell einen Einstieg in Deutschland. 2019 hatte sie in Kiew angefangen zu studieren. Wegen der Pandemie war dort schon bald der Uni-Betrieb auf Fernstudium umgestellt worden, sodass sie nun von Tübingen aus nahtlos anschließen kann. Bei dem Medienprojekt Tünews International erhält die Journalistik-Studenten einen Minijob, um ein Informationsangebot für ukrainische Geflüchtete aufzubauen. Schnell wird mehr daraus, sie ist jetzt auch für Instagram- und Facebook-Angebote zuständig und übersetzt deutsche Texte ins Ukrainische. Das gibt ihr ein Stück Unabhängigkeit vom Jobcenter. Doch es ist auch stressig. »Ich arbeite 60 bis 70 Stunden im Monat für Tünews. Das war nicht einfach zu verbinden mit der ukrainischen Uni, dem Integrationskurs, dem Englischkurs und dem Orientierungsseminar an der Uni«, erinnert sie sich.
Dreimal reist Yana zurück nach Kiew
Ihr Deutsch macht Fortschritte – sie versteht viel, kann aber noch nicht alles ausdrücken. Dreimal reiste sie in den vergangenen zwei Jahren mit mulmigem Gefühl nach Kiew. Mit dem Bus über Polen an die ukrainische Grenze, dann weiter mit dem Zug. Einmal fuhren sie aus traurigem Anlass – ihr Stiefvater war gestorben. Ein anderes Mal holt sie ihr Bachelor-Diplom ab. Der Aufenthaltsstatus der ukrainischen Kriegsflüchtlinge macht das möglich. Yana postet Bilder von den Zerstörungen in Kiew und welche von der Taufe ihres Patenkindes. Die Großeltern leben noch immer in ihrem Dorf. Ihr Vater arbeitet inzwischen in Polen als Lkw-Fahrer. Wegen einer Herzkrankheit hatte ihn die ukrainische Armee abgelehnt. Daraufhin geht er mit einem Arbeitsvisum nach Polen.
»Dann kann ich meine Großeltern nicht mehr sehen«
In die Ukraine zurückzukehren, kann sich Yana gerade nicht vorstellen. Zu groß ist die Angst vor den russischen Angriffen. »Ich möchte nicht im Bunker leben«. Die Jachten, die sie vermittelt hatte, sind gesunken oder verrosten auf dem Dnipro. Wie es nach einem russischen Sieg wäre, »darüber möchte ich noch nicht einmal nachdenken«, sagt sie leise. »Dann kann ich meine Großeltern nicht mehr sehen, auch nicht meine Freunde und Verwandten«, befürchtet sie. »Dann werde ich meine Heimat endgültig verlieren.«
Zwei Jahre nach ihrer Flucht wirkt Yana ein bisschen ratlos. Am liebsten würde sie ein Masterstudium im Bereich Online-Marketing anschließen – doch dafür müsste sie noch besser Deutsch sprechen. Inzwischen absolviert sie ein Coaching beim Jobcenter, sucht nach neuen Perspektiven. So ein bisschen fühlt sie sich zwischen die Welten gefallen. »Die Kontakte nach Kiew flachen ab«, sagt sie. Da sei schon eine gewisse Entfremdung zu spüren. In Tübingen hat sie zwar »Bekannte«, wie sie auf Deutsch nennt. Aber eben noch keine Freunde. Manchmal ist sie einfach zu müde, um abends noch rauszugehen, um zu versuchen, neue Leute kennenzulernen. »Ich fühle mich heimatlos.« (GEA)
GEFLÜCHTETE
Ukrainer inzwischen die größte Gruppe
Im Kreis Tübingen machen Ukrainerinnen und Ukrainer inzwischen den größten Anteil an den Geflüchteten aus. 2022 wurden laut Landratsamt im Kreis Tübingen 1.351 ukrainische Geflüchtete und 424 Asylbewerber aus anderen Ländern registriert. 2023 waren es mit 620 ukrainischen Geflüchteten und 541 Asylbewerbern aus anderen Ländern etwas weniger. Hinzu kommen noch 1.400 ukrainische Männer und Frauen, die privat unterkamen. Mit insgesamt 4.336 Geflüchteten in den letzten zwei Jahren hat der Kreis deutlich mehr Schutz-suchende aufgenommen als 2015 und 2016 (2.744). Bei den Jobcentern Reutlingen und Tübingen sind derzeit rund 4.600 Geflüchtete aus der Ukraine registriert. Im Kreis Reutlingen (2.534) etwa mehr als im Kreis Tübingen (2036). 69 Prozent sind zwischen 15 und 67 Jahre alt und gelten damit als erwerbsfähig. In Reutlingen sind 20 Prozent (Tübingen: 22 Prozent) arbeitslos oder warten auf einen Sprachkurs. Im Kreis Reutlingen sind – Stand Dezember 2023 – 190 von ihnen in Arbeit, Selbstständigkeit oder machen eine Berufsausbildung. Im Kreis Tübingen sind es 168. Die Übrigen absolvieren einen Sprachkurs, erziehen Kinder, gehen zur Schule, pflegen Angehörige oder sind krank. Bundesweit lebten im Januar 1.133.620 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland. Den Daten des Ausländerzentralregisters nach hatten knapp 900 000 von ihnen eine Aufenthaltserlaubnis nach der europäischen Massenzustromrichtlinie. Sie müssen also keinen Asylantrag stellen. Unter den Geflüchteten sind 350.000 Kinder und Jugendliche, 65 Prozent der Erwachsenen sind Frauen. In Baden-Württemberg leben 136.000 ukrainische Geflüchtete. Wie der Mediendienst Integration meldet, waren im April 2023 rund 143.000 Männer und Frauen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Laut einer repräsentativen Studie mehrerer Forschungsinstitute haben 18 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine im erwerbsfähigen Alter in Deutschland Arbeit. (GEA)