TÜBINGEN. Manchmal ist es der Geburtstagskuchen für den Kindergarten, an dem arme Familien scheitern. Dann sind es die Kosten für einen Schulausflugs oder die fehlenden Gummistiefel und Matschhosen. Für all das gibt es Lösungen, ohne dass die betroffenen Familien stigmatisiert werden. In einigen Tübinger Schulen und Kindergärten wurden dafür unkonventionelle Wege gefunden. In erster Linie, weil dort Menschen arbeiten, die speziell geschult wurden. »Ansprechpersonen gegen Kinderarmut (TAPs)« werden sie genannt. Seit 2015 gibt es sie in Tübingen. Mittlerweile sind es 370 Menschen in 160 Institutionen. Ihre Aufgabe ist es, über die vielen Hilfemöglichkeiten, die es für arme Familien gibt, zu informieren. Sie sollen aber auch für deren Probleme in ihren Einrichtungen sensibilisieren. Wie das aussehen kann, davon berichteten vier von ihnen beim Präventionsnetzwerk gegen Kinderarmut.
»Es muss ganz normal sein, Hilfe zu beantragen«
»Unsere ganze Perspektive hat sich durch die TAP-Schulung verändert«, erzählt Andrea Höge von der Tübinger Verwaltung. Sie hat Familien erlebt, die mit hohen Geldforderungen aus der Tübinger Stadtkasse zu kämpfen hatten. Bei einigen von ihnen drohte gar die Vollstreckung. Letztendlich lag es daran, dass sie ihre Ansprüche auf Unterstützung beim Landratsamt nicht wahrgenommen haben, weil sie davon nichts wussten. Genau da setzen TAPs an. Sie informieren die Betroffenen über ihre Rechte. »Es muss ganz normal sein, Hilfe zu beantragen. Familien haben ein Recht auf Unterstützung«, sagt Höge. Die Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung und Landratsamt ist dadurch enger geworden. Die städtischen Mitarbeiter erklären den Betroffenen, wo was beantragt werden kann. Amtsbescheide werden in einfacher Sprache verfasst, sodass sie auch verstanden werden. Klar und deutlich ist dem Bescheid auch zu entnehmen, was noch nachgereicht werden muss. »Wenn Eltern spüren, dass sie unterstützt werden, profitieren auch die Kinder«, sagt Höge.
Katharina Rieger ist Schulsozialarbeiterin und arbeitet in einer Tübinger Grundschule. Sie hat sich ebenfalls zur Ansprechperson in Sachen Kinderarmut schulen lassen. Eltern hilft sie bei der Beantragung von Kostenübernahmen, unterstützt sie bei der Anmeldung für die Ganztagesbetreuung und ist bei Elternabenden mit dabei. Die Schule sei mittlerweile ziemlich gut gerüstet, erzählt Rieger. Es gibt einen kleinen Fundus an Schulranzen und Mäppchen. »Manche Kinder haben einfach gar nichts«, berichtet die Schulsozialarbeiterin.
In den Kinderhäusern, in denen die beiden TAPs Giuseppina Orlando und Eliane Mawy arbeiten, wurde vieles angepasst, damit arme Familien sich nicht stigmatisiert fühlen. Es gibt Tauschregale mit Kinderkleidung, Gummistiefel und Spielzeug in den Einrichtungen. Zu den Kindergeburtstagen müssen Eltern keine Kuchen mehr backen, sondern die Kinder dürfen sich eine Aktivität raussuchen. Statt in die teure Wilhelma geht es beim Ausflug auf den nahe gelegenen Kinderbauernhof, in den botanischen Garten oder zu den Tübinger Paläontologen. Für alle Kinder gibt es Matschhosen im Haus, sodass niemand bei Aktivitäten ausgeschlossen wird.
»Wir wissen nicht so recht, wie wir das finanziell auffangen können«
Auch der Kinder- und Jugendzirkus Zambaioni hat mit Anja Lochner eine Ansprechpartnerin gegen Kinderarmut. Im Verein trainieren 250 Kinder von 6 bis 18 Jahren, 50 davon haben die Kreisbonuscard. Schon bei der Anmeldung werden die Eltern über die Unterstützungsmöglichkeiten informiert, erzählt Lochner. Der Verein hilft aber auch tatkräftig, wenn es Eltern nicht mehr schaffen, ihre Kinder zur Trainingsstunde zu bringen. Bei einem Jungen mit Down-Syndrom war das der Fall. Die Zambaionis haben zusammen mit dem Freundeskreis Mensch eine Lösung gefunden. An die Grenzen stoße der Verein allerdings mittlerweile, was die Finanzierung angeht, sagt Lochner. Während früher die Stadt bei Kreisbonuscard-Besitzern die Kosten noch vollständig übernommen hat, zahlt sie jetzt nur noch 75 Prozent. »Wir wissen nicht so recht, wie wir das auffangen können«, so Lochner. »Bei uns fallen deshalb dieses Jahr 3.000 Euro weg.«
Städtische Einrichtungen haben es da einfacher. Vieles geht über Elternspenden und Fördervereine. Der Tübinger Mädchentreff wendet sich an Stiftungen, um für die Mädchen einmal im Jahr eine kleine Urlaubsreise finanzieren zu können. Dass die Stadtkasse klamm ist, ist bei allen angekommen.
Wie wichtig die Arbeit der TAPs ist, beweisen die Zahlen: Nur 22 Prozent der Familien, denen Unterstützung vom Landratsamt zusteht, bemühen sich darum. Viele wissen immer noch nicht, welche Förderungen sie beanspruchen können. Die TAPs sollen dabei helfen, den Durchblick zu bekommen. Alle interessierten Tübinger können sich schulen lassen, sagt Ann-Marie Kaiser. Mindestens drei Stunden sollte man dafür investieren. (GEA)