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Wieso es den Künstler Nerse Batsashi immer wieder nach Tübingen zieht

Der ungewöhnliche Weg des Bildhauers Nerse Batsashi. Über den Umgang der Deutschen mit Skulpturen.

Nerse Batsashi:  »Vielleicht  schaffen wir  wieder eine  friedliche Rosen-Revolution« FOTO: KREIBICH
Nerse Batsashi: »Vielleicht schaffen wir wieder eine friedliche Rosen-Revolution« FOTO: KREIBICH
Nerse Batsashi: »Vielleicht schaffen wir wieder eine friedliche Rosen-Revolution« FOTO: KREIBICH

TÜBINGEN. Die Geschichte dieser Familie wäre viel eher etwas für einen mehrbändigen Roman, denn sie sprengt die Grenzen eines Artikels in der Zeitung. Und sie führt tief hinein in die Geschichte der Länder am Schwarzen Meer, nach Russland und Kasachstan – vom Zarenreich über die Sowjet-Zeit bis heute. Sie handelt von Revolte und Krieg, Vertreibung und Verbannung, von Rückkehr und Willenskraft und der Aufgabe von Kunst als Mittlerin für Versöhnung und Frieden.

Wer Nerse Batsashi begegnet, trifft auf einen freundlichen, aufgeschlossenen 77-Jährigen. Für eine Unterhaltung braucht man erst mal einen Übersetzer: Batsashi spricht zwar Georgisch, Russisch, Türkisch und Griechisch, aber kein Deutsch und nur ein paar Brocken Englisch. Weil die beiden Töchter im Landkreis Tübingen leben und perfekt Deutsch sprechen, ist die Verständigung aber kein Problem.

Die Töchter sind auch der Grund, warum der Bildhauer immer wieder mal in Tübingen ist. 2018 war er beispielsweise Gast einer georgischen Kulturreihe in der Unistadt und hat einige seiner Kunstwerke ausgestellt – die kleineren, nicht die turmhohen, die auf einem Sockel weithin sichtbar sind.

Nach Sibirien deportiert

Beginnt man die Familen-Geschichte bei seinem Großvater Ilias, ist man sofort mittendrin in diesem unruhigen Hin und Her der Menschen am Schwarzen Meer. Denn Ilias wandert nach Georgien ein, genauer in die Region Abchasien, ist aber osmanischer Staatsbürger. Er wird erfolgreicher Tabakfabrikant, gerät jedoch in Konflikt mit den Beamten des Zaren. Die Familie wird daraufhin deportiert.

Ilias’ Sohn Memed kehrt später zurück, baut das Unternehmen wieder auf. Die Sowjetunion sorgt sich um ihre Südgrenze. Memed soll mit guten Kontakten und Bestechung dazu beitragen, dass die Türkei deutsche und italienische Schiffe nicht ins Schwarze Meer lässt. Auch Memed wird später Opfer des Stalinschen Terrors: 1949, Sohn Nerse ist gerade zwei Jahre alt, wird die Familie nach Sibirien deportiert. 1958 wird sie nach Kasachstan verbannt. Erst fünf Jahre später darf sie nach Georgien zurückkehren.

Keine Zusammenarbeit mit KGB

Zwei Dinge begeistern den jungen Nerse: Sport und Kunst. Er wird Boxer, kann aber seinen Lebensweg als Künstler verfolgen, weil der Direktor einer Kunstschule seine Begabung erkennt und ihn ohne Eingangs-Prüfung aufnimmt. Dass er sich keinen leichten Weg ausgesucht hat, wird ihm klar, als er die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst KGB verweigert. Eigentlich hätte seine Abschluss-Arbeit an der Akademie in Tiflis einen prominenten Platz beim Fernsehturm erhalten sollen. Schon das Modell war fünf Meter hoch, die fertige Skulptur eines weisen Mannes wäre aus großer Ferne zu sehen gewesen. Doch immer wieder treten Probleme auf.

Nerse Batsashi folgt unbeirrt seiner inneren Stimme. Er erlebt schöne Momente wie die Begegnung mit Muhammad Ali. 1978 wird der schwarze Boxer nach Moskau eingeladen. Der Bildhauer hat schon elf Jahre zuvor in der Akademie den Entwurf einer Muhammad-Ali-Statue geschaffen und übergibt sie ihm als Geschenk. Ali spricht davon, dass er gerne eine von Batsashi entworfene Figur in den USA realisieren würde.

Doch dann greift die Sowjet-Armee in Afghanistan ein. Der Kontakt von Ali in die UdSSR bricht ab. Nerse Batsashi muss hier wie bei anderen Gelegenheiten mit vielen Enttäuschungen fertig werden – bei seiner künstlerischen Arbeit und mit seiner Hoffnung auf eine friedlichere Welt.

Kontakt zu Gorbatschow

Früh erkennt er, dass nach dem Ende der Sowjetunion gewaltsame Konflikte in den ehemaligen Teil-Republiken drohen. Der Künstler sucht den Kontakt zu Gorbatschow, zieht aus seiner Aktentasche, die er dieser Tage immer dabei hat, ein Telegramm: Die Bestätigung von damals, dass er zu einem Gespräch im Kreml zugelassen wird. Doch nicht der Generalsekretär empfängt ihn, sondern der Leiter einer Sonderabteilung. Mit seinen Vorstellungen dringt Batsashi nicht durch. Und muss bald darauf erleben, dass schwere Kämpfe daheim in Abchasien ausbrechen. Die Familie muss alles hinter sich lassen und rettet sich nach Tiflis.

Nerse Batsashis Skulptur von Muhammad Ali. Einen Handschuh hat er ausgezogen – aus Protest gegen Rassismus und Gewalt. FOTO: PRI
Nerse Batsashis Skulptur von Muhammad Ali. Einen Handschuh hat er ausgezogen – aus Protest gegen Rassismus und Gewalt. FOTO: PRIVAT
Nerse Batsashis Skulptur von Muhammad Ali. Einen Handschuh hat er ausgezogen – aus Protest gegen Rassismus und Gewalt. FOTO: PRIVAT

Die aktuelle Entwicklung in Georgien sieht der 77-Jährige mit Besorgnis. Die Bevölkerung ist pro-europäisch gesinnt, die aktuelle Regierung tut alles, um eine Annäherung zu verhindern. »Die Jugend ist nicht zu unterschätzen. Vielleicht schaffen wir wieder eine friedliche Rosen-Revolution wie 2003«, sagt der Optimist und Pazifist. In den vergangenen Tagen war er sehr beschäftigt, eine neue Ausstellung vorzubereiten. Im Bistro Alice/Blue Village in Reutlingen (Alice-Haarburger Straße 20/22) sind einige seiner Werke zu sehen. »Die Besinnung (die Reue)« zum Beispiel, die bei einem Wettbewerb der UNO ausgezeichnet wurde. Er selber bleibt unbeirrt. »Mit der Macht der Kunst erbaue ich Brücken und zersprenge Grenzen« hat er als Motto für seine Schau gewählt.

Seine nächsten Projekte: Die Skulptur »Der Befreier« soll wieder zurück ins Engelmuseum der Stadt Anykšciai in Litauen. Sie war nur für den Bronzeguss nach Georgien geholt worden. Und es würde ihm gefallen, eine Ausstellung zusammen mit dem georgischen Generalkonsulat in Stuttgart zu organisieren. Denn der Umgang mit Bildender Kunst in Deutschland imponiert ihm. »In Georgien sind viele Denkmäler in einem miserablen Zustand. Hier scheinen immer alle mit Liebe gepflegt zu sein.« (GEA)