TÜBINGEN. Ist das Kunst oder kann das weg? Manchmal ist der Unterschied zwischen Hochkultur und Sauerei gar nicht so eindeutig. Jedenfalls nicht für die Handwerker, die im September 2022 an der Tübinger Bursa ein Kunstwerk des bekannten Schweizer Graffiti-Künstlers Harald Naegeli einfach wegrenovierten. »Das Gebäude gehört – wie alle Universitätsgebäude – dem Land Baden-Württemberg. Ich glaube, die wollten das nicht an die große Glocke hängen«, sagt Professor Ernst Seidl. Der Kunsthistoriker ist Direktor des Museums der Universität Tübingen, das über 150 Werke von Naegeli besitzt. »Ich habe das damals aus der Zeitung erfahren und mich sehr aufgeregt«, sagt Seidl. »Ich war auf einem Symposium in Zürich. Selbst die Schweizer, die ihn eingesperrt haben, lassen Naegelis Werke in Ruhe«, empört er sich. Und was ist mit dem Denkmalschutz? »Denkmalschützer können sehr individuell argumentieren«, sagt Seidl. Doch auch der Denkmalschutz hilft Naegelis Kunstwerken nicht immer. An der Kölner Stadtkirche St. Cäcilien war Naegelis Werk »Totentanz« aus dem Jahr 1984 unter Denkmalschutz gestellt worden. Immer wieder wurde es bei Stadtführungen gezeigt. Doch die Denkmalschützer hatten offenbar nicht mit der Kölner Stadtreinigung gesprochen. Im September 2024 entfernten die für Sauberkeit zuständigen Mitarbeiter das Werk bis auf wenige Reste.
Einst zierten zahlreiche schwarze Graffiti-Strichmännchen von Harald Naegeli die Tübinger Altstadt. Unter anderem am Hölderlinturm, in der Ammergasse und in einer Tiefgarage am Rathaus verewigte sich der Schweizer. Warum ausgerechnet in Tübingen? Ernst Seidl erinnert sich, dass seine Vorgängerin am Kunsthistorischen Institut, Anette Michels, einen guten Draht zum Schweizer Künstler hatte. »Ich war damals noch Assistent an der Burse«, erzählt er. »Sie hat ihn immer nach Tübingen eingeladen. Und ich denke, sie wusste auch, dass er abends noch seine Spaziergänge in der Altstadt macht«, so Seidl. Die Fotografin des Instituts sei in der Stadt herumgeschickt worden, um Naegelis Werke für die Nachwelt festzuhalten. Das Entfernen des Werkes am Eingang der Burse – von der Bild-Zeitung als »Handwerkerfehler« bezeichnet – habe im Zusammenhang mit den Kampfansagen von Oberbürgermeister Boris Palmer an die Graffiti-Sprüher Häme ausgelöst. Palmer lobte bekanntlich eine Prämie für die Ergreifung von Sprayern aus. Seidl ist sich allerdings sicher, dass es in der Tübinger Altstadt immer noch Graffiti von Naegeli gibt. »Ein paar sind sicher noch vorhanden«, meint er.
Palmer erkennt Kunstwerke
Dem Schweizer gefiel es in Tübingen so gut, dass er 2017 der Graphischen Sammlung der Universität insgesamt 64 großformatige Federzeichnungen aus dem zentralen Werkkomplex »Urwolke«, fünf großformatige Landschaftszeichnun-gen sowie 84 kleinformatige Zeichnungen, schenkte. Die Werke entstanden parallel zu Naegelis Kunst im öffentlichen Raum. »In den Federzeichnungen verdichtet sich das Phänomen der Linie als Vision und Utopie und reflektiert zugleich die Auseinandersetzung mit der Natur und mit kunsthistorischen Traditionen«, hieß es damals. Der Künstler sei der Hochschule seit Langem persönlich verbunden. Er schätze die Universität Tübingen als Ort der Freiheit der Gedanken und Utopien, begründete er seinerzeit die Schenkung. Die Naegeli-Zeichnungen sind derzeit nicht öffentlich ausgestellt. Man kann sie sich im Lesesaal des Kunsthistorischen Instituts vorlegen lassen, sagt Ernst Seidl.
Die Stadt Tübingen hat Naegelis Graffito an der Rathaus-Tiefgarage zum Teil ihres Kunstpfades erklärt. Auch OB Boris Palmer, der Graffiti in der Stadt ansonsten den Kampf angesagt hat, schreibt auf GEA-Anfrage: »Im Gegensatz zu den Schmierereien der Tagger sind Nägelis Zeichnungen für mich erkennbar Kunstwerke.«
Vor seiner Rückkehr in die Schweiz hatte Naegeli lange Zeit wohl auch wegen der Nähe zu Joseph Beuys in Düsseldorf gelebt. Beuys 1986 von einer Reinigungskraft entfernte Fettecke brachte dem Besitzer eine Entschädigung von 40.000 DM durch das Land Nordrhein-Westfalen ein. Die Reste der Fettecke, etwa 2 Kilogramm, wurden 2014 im Rahmen der Performance »Geist« endgültig zerstört und zu einem hochprozentigen Schnaps destilliert, dessen Geschmack an Parmesan erinnern soll. Beuys Witwe protestierte gegen die Aktion und überprüfte ergebnislos rechtliche Schritte wegen einer Urheberrechtsverletzung.
Ein weiteres Werk von Beuys, eine mit Mullbinden und Heftpflastern versehene Badewanne war 1973 bei der Feier eines SPD-Ortsvereins gereinigt und zweckentfremdet worden. Auch hier erhielt der Besitzer Schadensersatz. Die Entfernung des Tübinger Naegeli-Kunstwerks von der Burse hatte bisher kein juristisches Nachspiel. (GEA)