TÜBINGEN. Wer Reiner Frey beim Betreten des Gerichtsgebäudes begegnet, denkt nicht unbedingt an einen Richter. Der 64-Jährige wirkt unkonventionell. In der Regel hat er frühmorgens schon einen Dauerlauf absolviert und sich wenig später aufs Rad geschwungen, um zum Dienst in die Doblerstraße zu fahren.
Wer ihn kennt, weiß: Der Mann mit der Läufer-Statur legt 50 bis 70 Kilometer die Woche zurück und hat schon an 15 Marathon-Läufen teilgenommen. Seine Bestzeit? Frey wehrt ab: »Ach, das ist schon lange her. Und es geht nicht um die Platzierung. Ich mache das zum Ausgleich.« 15 Jahre war er Präsident des Landgerichts. In diesen Tagen geht er in den Ruhestand. Und zieht Bilanz.
- Zu kleinteilig
Es gibt 56 Amtsgerichte im württembergischen Landesteil, davon sieben im Landgerichtsbezirk Tübingen. Diese Struktur wird auf Dauer nicht zu halten sein, glaubt Frey. Schon jetzt seien Richterstellen bei den etwas abgelegenen Amtsgerichten wie Calw, Münsingen und Bad Urach immer schwerer zu besetzen. Seine Beobachtung: »Wer nicht von dort stammt oder dorthin zieht, will meist bald wieder zurück – vorzugsweise nach Tübingen.« Vergleichbar sei das mit der Schwierigkeit der Regierungspräsidien, die Lehrerversorgung in den Land- und Alb-Gymnasien sicherzustellen. »Die Einheiten sind zu klein; jede Krankheit, Schwangerschaft oder sonstige Vakanz schlägt durch und verlangt schnelle und kreative ›Ersatzlösungen‹.« Meist wird ein Richter teilweise abgeordnet. »Dies ist verbunden mit häufigen Richterwechseln und Verzögerungen in der Fallbearbeitung – eine häufige und oft auch berechtigte Kritik der Anwaltschaft.«
- Falsch verstandene Bürgernähe
"Justiz muss in der Fläche vertreten sein", sagen Politiker gerne. Das schaffe Bürgernähe. Das hält Frey für ein Missverständnis. "Oft wird argumentiert, die Richter der kleinen Gerichte würden die Verhältnisse dort besonders gut kennen. Aber sie müssen das Recht kennen und nicht örtliche Besonderheiten. Es gibt kein ›Ortsrecht‹ . Außerdem sind die Kolleginnen und Kollegen überwiegend gar nicht örtlich heimisch oder von dort stammend und deshalb nicht ›ortskundig‹. Für die Bürger brächte die Zusammenlegung keinen spürbaren Nachteil. Wer ein- oder zweimal im Leben einen Zivilprozess führt oder sich scheiden lässt, dem wird es egal sein, ob er 20 oder 60 Kilometer fahren muss."
- Mehr Fälle für Amtsgerichte
Der Streitwert wird erhöht. Ab 2026 sollen 8.000 statt 5.000 Euro die Grenze sein, bis zu der Verfahren an Amtsgerichten verhandelt werden. »Das ist im Grunde bei dem seit 1993 existierenden aktuellen Streitwert noch nicht einmal ein Inflationsausgleich«, sagt Frey. Die Lobby der Anwälte hat eine stärkere Erhöhung verhindert. Bei Amtsgerichten herrscht nämlich keine Anwaltspflicht. »Der jetzt nach Jahren gefundene Kompromiss ist ›halblebig‹«, findet Frey.
- Altes Gemäuer, neue Technik
Die Gerichte residieren nicht selten in alten Gebäuden. Der Aufwand für die Digitalisierung ist entsprechend hoch. Außerdem sind unterschiedliche Bauverwaltungen zuständig. »Man müsste sich auf wenige schlagkräftige Standorte konzentrieren und dort – konzentriert und zentral – eine optimale Binnenausstattung schaffen. In diesem Bereich ist die Politik auch nicht mutig. Klar: Kein Bürgermeister oder Landrat will das örtliche Amtsgericht verlieren, zumal es oft eine der letzten staatlichen Institutionen im Ort ist.«
- Wettbewerb um die Besten
Am Engagement der Mitarbeiter gibt’s nichts zu deuteln, sagt Frey nach 15 Jahren Tätigkeit im Bezirk. Das gelte für die städtischen Gerichte genauso wie für die ländlichen – und über alle Besoldungsstufen hinweg. »Die Verbundenheit aller mit ›ihrem‹ Gericht und ›ihrer‹ Justiz hat mich immer beeindruckt.« Den Verdienst anzuheben, sei längst überfällig gewesen. Beim »Wettbewerb um die besten Absolventen« für die Richterstellen habe man aber den Anschluss verloren. »Große Anwaltskanzleien bieten das Dreifache – und zwar ohne die früher praktizierte 24/7-Ausbeutung. Man telefoniert den guten Leuten praktisch hinterher. Viele Jahre hatten wir gute und sehr gute Bewerber, aber keine Stellen, jetzt ist es umgekehrt. Die anstehende Pensionierungswelle muss einem echte Sorge machen.« Dabei hatte Tübingen immer einen sehr guten Ruf und holte oft Leute mit Spitzenexamina.
- Anhörungen per Video
Muss für eine richterliche Anhörung immer zwingend ein Ortstermin festgelegt werden? Mit Gefangenen ist mittlerweile die Kommunikation per Video erlaubt. Frey würde das gerne auch in der Psychiatrie einführen. Der Tübinger Richter fährt im Bereitschaftsdienst nach Zwiefalten oder Hirsau, kommt auf unzählige Wochenend- oder Abendeinsätze in den Psychiatrien – und stellt an Ort und Stelle fest, dass der Zeitaufwand keine präziseren Erkenntnisse bringt, als eine Video-Schalte gebracht hätte. »Hier besteht dringend Reformbedarf.«
- Ortstermine
Ortstermine sind gar nicht selten. Und natürlich bleiben sie besonders gut im Gedächtnis. Frey denkt pragmatisch. Bei einem Streit ums Geh- und Wegerecht kürzt er die Verhandlung ab, indem er eine Schubkarre herbeischaffen und einen Durchfahrtsversuch unternehmen lässt. Als der unerfahrene »Schubkarrenführer« auf Anhieb ungestreift durchkommt, ist die Sache klar.
- Lärm im Dorf
Das Dorfleben bietet immer wieder Stoff für juristische Auseinandersetzungen. Erstaunlich oft geht’s offenbar um krähende Hähne. Ist in St. Johann-Bleichstetten die Haltung von Hühnervölkern samt Gockel ortsüblich oder nicht? Muss der Hahn zum Schnabelhalten verdonnert werden? Was ist mit der Kleintierzuchtanlage in Metzingen-Neugreuth?
Frey ist Frühaufsteher und holt im Zweifel die Parteien morgens um 6 Uhr zusammen, um sich einen Eindruck vom Krähen des Federviehs zu verschaffen. Bei den Kirchenglocken von Hülben (»weltliches Läuten«) kamen er mit einem Schallgutachten aus. »Beliebt sind auch die Geräusche von Wärmepumpen, was wir durch einen ›Ohrenschein‹ im Schlafzimmer des gestörten Nachbarn prüfen mussten.«
- Prozesshansel?
Die Akte wird dick und dicker, die Parteien sind sich spinnefeind. Es kommt vor, dass die Prozess-Beteiligten den Kern des Streits vor lauter ›sich aufregen‹ längst aus den Augen verloren haben. Frey dagegen war es stets wichtig, zum Kern vorzudringen und die Leute ernst zu nehmen. Er weiß: Niemand ist davor gefeit, sich zu verrennen. »Und, das habe ich zuweilen zu den Parteien gesagt: ›Ich bin 40 Jahre dabei und habe es vor 38 Jahren aufgegeben, mich zu wundern.‹«
- Musik im Gericht
Der Gerichtssaal als Theaterbühne? Der Hof als Arena für Livemusik? Frey hat das Gebäude in der Doblerstraße ein paar Mal umfunktioniert. Beim Bücherfest gab’s Lesungen, in Kooperation mit dem LTT wurden ›schwurgerichtstaugliche‹ Stücke aufgeführt. Dieter Thomas Kuhn sang seine Schlager auf dem Gerichtsparkplatz. Frey wunderte sich, welche Unmenge an Bürokratie damit verbunden war, aber ihm war wichtig, dass die Öffentlichkeit das schöne Gebäude zwischendurch auf andere Weise erlebt.
- Kriminalität im Netz nimmt zu
Den klassischen Banküberfall aus den 80er-Jahren gibt es kaum noch. »Wir kämpfen gegen die Kriminalität im Netz und Kinderpornografie in allen Formen«, sagt der scheidende Präsident.
- Wenn Nachbarn streiten
Frey hat seit knapp 20 Jahren alle Berufungen gegen Zivilurteile der Amtsgerichte übernommen (früher in Hechingen, seit 2009 in Tübingen). Da ging’s um Mietstreitigkeiten, Verkehrsunfälle, Nachbarschaftsstreite, Kaufverträge, Ge-währleistung und vieles mehr. Da habe sich wenig geändert. Allerdings: Gestritten wird zwar immer noch um Überbau, Zweige und Bäume – »aber eben auch um die Blendwirkung von Solarpaneelen oder die zunehmende Installation von Überwachungskameras an Privathäusern – echte oder Attrappen.«
- Diesel-Klagen
Massenklagen machen den Gerichten schwer zu schaffen. Das läuft oft nach dem Muster: Die Rechtsschutzversicherung zahlt es ja. Oder Kanzleien bieten an, den Fall ohne Kostenrisiko, aber gegen Erfolgsbeteiligung zu übernehmen. Typisch beim Diesel-Skandal, den Glücksspiel-Prozessen oder in Sachen Verstoß gegen den Datenschutz. Viele glauben, da sei etwas für sie zu holen. Aber: »Die Kläger, die in der Verhandlung vor einem sitzen, wissen oft gar nicht zu sagen, was ihnen denn Unrechtes geschehen ist, was der Rechtsstaat genau korrigieren solle.« In den Massenverfahren gehe es nicht mehr um Gerechtigkeit im Einzelfall, doch die Gerichte seien teilweise lahmgelegt. Da sei dringend eine Änderung nötig.
- Schnell und gut
»Der Bürger muss sich darauf verlassen können, dass es schnell geht«, findet Frey. Klar ist: Es wird immer Prozesse geben, die sich ziehen. Und manchmal braucht man gleich mehrere Gutachten und viele Verhandlungstage. Aber die durchschnittliche Verfahrensdauer kurz zu halten, war ihm immer wichtig. Das wirklich Befriedigende am Richterberuf ist nach seiner Überzeugung: Dem Einzelfall Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Rechtsfrieden herzustellen. »Ob er dauerhaft hält, weiß man nie – eine Zeitlang aber schon.«
- Mit Maske und Tests
»Die Corona-Pandemie hat mich am meisten geschlaucht«, erinnert sich der Tübinger. Infektionsschutz und Gerichtsbetrieb passen nicht zusammen. »Mehr oder weniger stündlich kamen Anweisungen von oben, was man einerseits zu beachten, andererseits aber an Dienstbetrieb sicherzustellen hatte.« Frey: »Maskenkontrollen, 3G-Regeln, Teststraßen für Mitarbeiter und so weiter möchte ich nicht mehr erleben.« Unter den Belegschaft habe es allerdings keinen einzigen »Quertreiber« oder Systemsprenger gehabt. »Der Geschäftsbetrieb war durchgehend gesichert.«
- Die Zukunft
Die Justiz hat als dritte Gewalt eine entscheiende Rolle. Die Zeiten sind so, dass man dafür mehr einstehen muss als je zuvor, fürchtet der Richter. »Eine unabhängige, neutrale, ohne Ansehen der Person handelnde Justiz ist nicht selbstverständlich. Sie muss verteidigt werden.« (GEA)
PERSON UND BEZIRK
Zuständig für 700.000 Menschen
Reiner Frey wurde 1960 in Baiersbronn geboren. Er stammt aus einer »bildungsfernen« Landwirts- und Handwerkerfamilie und machte als Erster überhaupt Abitur. Er studierte in Tübingen. Sein zweites Juristisches Staatsexamen machte er 1987 als Landesbester. Von 2001 bis 2006 war er Direktor des Amtsgerichts Reutlingen, 2006 kam er als jüngster Präsident eines Landgerichts nach Hechingen. Seit 2009 ist er in gleicher Funktion in Tübingen. Der Bezirk umfasst die drei Kreise Reutlingen, Tübingen und Calw mit rund 700.000 Menschen – er reicht von Zwiefalten bis vor die Tore Karlsruhes. Dazu gehören auch sieben Amtsgerichte (Münsingen, Bad Urach, Reutlingen, Tübingen, Rottenburg, Nagold und Calw). Am Landgericht sind 36 Richter beschäftigt, an den Amtsgerichten etwa 50. Eine Besonderheit besteht in der »Psychiatrielastigkeit« des Bezirks, weil neben den Psychiatrien in Tübingen und Reutlingen die Zentren Zwiefalten und Hirsau dazu gehören. (GEA)