TÜBINGEN. Der Moment, in dem ein Kind das Licht der Welt erblickt, gehört zu den bewegendsten im Leben. Immer häufiger findet dieses Ereignis nicht auf natürlichem Wege, sondern im Operationssaal statt. Noch nie zuvor wurden in Deutschland so viele Babys per Kaiserschnitt geboren wie im Jahr 2023: Fast jede dritte Geburt – 32,6 Prozent – verlief operativ. Vor 30 Jahren lag diese Zahl noch bei 16,9 Prozent. Mit einer Kaiserschnittrate von 32,2 Prozent lag Baden-Württemberg beinahe im Bundesdurchschnitt. Professor Dr. Harald Abele, stellvertretender Ärztlicher Direktor in der Geburtshilfe an der Frauenklinik in Tübingen spricht über Zahlen, Entwicklungen – und darüber, was für eine selbstbestimmte Geburt wirklich zählt.
GEA: Nimmt die Zahl der Kaiserschnitte auch im Kreis Tübingen zu?
Harald Abele: Die Kaiserschnittraten werden nicht kreisweit ausgewertet. Man sollte solche Zahlen sehr differenziert betrachten. In Deutschland sehen wir aktuell so wenige Geburten wie selten zuvor. Die Geburtenzahl ist vergleichbar niedrig wie im Jahr 2013. Damals lagen wir deutschlandweit unter 700.000 Geburten – im vergangenen Jahr wurden 677.000 Kinder geboren. Das sind über 100.000 weniger als 2021.
Hat das Auswirkungen auf die Statistik der Kaiserschnitte?
Abele: Ja, absolut. Die Statistik verschiebt sich, weil besonders die Schwangerschaften ohne größere Risikofaktoren – also jene mit der größten Schwankungsbreite – weniger geworden sind. Das verzerrt den prozentualen Anteil der Kaiserschnitte, ohne dass zwangsläufig mehr Kaiserschnitte durchgeführt werden. Es handelt sich eher um eine statistische Verschiebung aufgrund des allgemeinen Geburtenrückgangs.
Gibt es hinsichtlich der Kaiserschnitte regionale Unterschiede?
Abele: Je weiter man in Deutschland nach Norden oder Osten schaut, desto niedriger ist die Kaiserschnittrate – aber auch die Geburtenzahl. Im Süden hingegen steigen die Zahlen deutlich an. Das hat nicht nur mit medizinischen Faktoren zu tun, sondern auch mit kulturellen Unterschieden und inneren Haltungen. Das lässt sich auch europaweit beobachten. In Polen liegt die Kaiserschnittrate zum Beispiel bei rund 39 Prozent, in Italien bei etwa 33 Prozent. Die Zahlen variieren stark – und spiegeln auch den gesellschaftlichen Umgang mit Geburt und Risiko wider.
Kommen Wunschkaiserschnitte häufiger vor?
Abele: Ja, das Thema wird immer präsenter. In meinen über 30 Jahren in der Geburtshilfe kann ich sagen, dass die Nachfrage danach deutlich zugenommen hat. Ein großer Einflussfaktor sind sicherlich die sozialen Medien. Dort wird der Kaiserschnitt häufig sehr positiv dargestellt. Interessanterweise wird selten thematisiert, wenn Prominente ganz normale, vaginale Geburten erlebt haben. Wenn aber jemand per Kaiserschnitt entbunden hat, wird das medial besonders hervorgehoben.
Wie sehr zählt der Wunsch der Frau?
Abele: Die Entscheidungsfreiheit spielt eine zentrale Rolle. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der die natürliche Geburt als der einzig richtige Weg galt. Es gibt gute medizinische Gründe für eine vaginale Geburt, aber letztlich zählt das informierte Einverständnis der Frau. Es wäre eine Katastrophe, eine Frau zu einer Geburtsform zu zwingen, hinter der sie nicht selbst steht.
Wird die Mutter-Kind-Bindung durch einen Kaiserschnitt beeinträchtigt?
Abele: Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist ein sehr komplexer Prozess. Bei uns in Tübingen haben wir viele Risikoschwangerschaften – darunter über 700 Mutter-Kind-Paare, bei denen es zu Frühgeburten kommt. In solchen Fällen ist der unmittelbare Haut-zu-Haut-Kontakt oft eingeschränkt oder gar nicht möglich, weil medizinische Maßnahmen Vorrang haben.
Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Abele: Wir arbeiten nach dem Konzept der babyfreundlichen Klinik. Das heißt: Bindung, kindliche Entwicklung und das Stillen haben einen sehr hohen Stellenwert. Wo immer es medizinisch machbar ist, ermöglichen wir bereits während des Kaiserschnitts den Haut-zu-Haut-Kontakt. Ein wesentlicher Baustein des babyfreundlichen Konzeptes ist, dass wir von Anfang an Mutter und Kind nicht trennen. Das garantiert, dass die Frauen rechtzeitig in die Milchbildung kommen.
Welche Vorteile sehen die Frauen in einem Kaiserschnitt?
Abele: Viele schätzen daran, dass die Geburt sehr schnell vorbei und vorhersehbar ist. Sie können ihr Kind gleich nach der Geburt sehen und schnell wieder aufstehen. Das klingt für viele zunächst sehr attraktiv und vermittelt vielen Frauen ein Gefühl von Sicherheit. Was viele nicht wissen: Mit einem Kaiserschnitt sind in einer Folgeschwangerschaft erhebliche Gesundheitsrisiken verbunden, die nach einer natürlichen Geburt nicht bestehen. Möchte eine Frau mehrere Kinder bekommen, ist es deshalb aus medizinischer Sicht sehr anzuraten, eine natürliche Geburt anzustreben.
Muss nach einem Kaiserschnitt automatisch auch die nächste Geburt per Kaiserschnitt erfolgen?
Abele: In den USA gilt – insbesondere aus versicherungsbedingten Gründen - immer wieder den Grundsatz: einmal Kaiserschnitt, immer Kaiserschnitt. Es kommt sehr auf die individuellen Umstände an. Wenn eine Frau bereits an der Gebärmutter operiert wurde, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie sich wieder für einen Kaiserschnitt entscheidet – vor allem, wenn sie diesen als positiv erlebt hat. Aber grundsätzlich ist auch eine vaginale Geburt nach einem Kaiserschnitt möglich. Von zehn Frauen gebären nach einem Kaiserschnitt ungefähr sechs bis sieben auf natürliche Art und Weise.
Wovon hängt die Entscheidung ab?
Abele: Zunächst schauen wir im Beratungsgespräch genau, warum es beim ersten Mal zum Kaiserschnitt kam. War es zum Beispiel eine Frühgeburt mit einer noch relativ kleinen Gebärmutter? Gab es einen Geburtsstillstand nach vielen Stunden? Lagen eine Endometriose oder Myome vor? Ebenso wichtig ist die Art der Schnittführung und wie genau operiert wurde. Diese medizinischen Aspekte prüfen wir sorgfältig.
Was muss bei einer vaginalen Geburt nach einem Kaiserschnitt beachtet werden?
Abele: Sie sollte unbedingt in einer Klinik stattfinden, in der rund um die Uhr ein Kaiserschnitt durchgeführt werden kann und idealerweise eine kinderärztliche Versorgung zur Verfügung steht – denn es kann theoretisch zu Komplikationen mit der alten Narbe kommen.
Kann ein Kaiserschnitt also mit einer natürlichen Geburt mithalten?
Abele: Wir bauen viele Brücken – und das mit großem Einsatz. Aber man muss ehrlich sagen: Bei einer natürlichen Geburt müssen diese Brücken nicht gebaut werden. Alles, was wir rund um den Kaiserschnitt tun, ist ein Versuch, möglichst nahe an das heranzukommen, was bei einer Spontangeburt selbstverständlich geschieht. (GEA)