MÖSSINGEN. Mit einem Schildbürgerstreich, also einer Fehlplanung der Öffentlichen Hand, hat Mössingen bereits vor drei Jahren für landesweites Kopfschütteln gesorgt, als Bürgerstiftung und Stadtverwaltung einen 2,60 Meter hohen – und damit schwer zugänglichen – öffentlichen Bücherschrank aufgestellt hatten. Gut, die Verantwortlichen hatten ihr Missgeschick eingesehen und mussten den Spott ertragen. Nun sorgt allerdings ein neuer Fall von Realsatire bereits für großen Unmut in der Stadt. Wer hierfür die Schuld trägt, ist noch nicht ausgemacht. Im Zweifelsfall die Regierung. Aber zunächst der Reihe nach.
Gewissermaßen über Nacht, auf jeden Fall ohne öffentliche Ankündigung, ist am Montag die zentrale innerörtliche Verkehrsachse Breite Straße zwischen der Tunnelkreuzung und dem Jakob-Stotz-Platz in eine 30er-Zone verwandelt worden. Auf 400 Metern Länge haben städtische Mitarbeiter vier Mal das entsprechende Verkehrszeichen »Zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km/h« auf Stahlrohrpfosten montiert.
So weit, so gut. Die bisher erlaubten innerörtlichen 50 km/h konnten auf diesem Abschnitt zwischen drei Ampeln sowieso nur in den seltensten Fällen erreicht werden; insofern ist die in Blech gestanzte Verkehrsberuhigungsmaßnahme mehr symbolischer Art. Die Aktion lief so schnell ab, dass an der Ecke Karl-Jaggy-Straße sogar vergessen wurde, das bisherige und nun absolut widersprüchliche Verkehrszeichen »Ende der 30er-Zone« zu demontieren.
Hohes Bußgeld droht
Buchstäblich für Aufsehen und für Unmut bei den nicht informierten Gemeinderäten sorgen hingegen die Zusatzschilder auf den Gestängen. Mitbürger, die vor April 2020 ihren Führerschein gemacht haben, kennen dieses neue Verkehrszeichen 277.1 gar nicht: Es sieht aus wie das übliche Pkw-Überholverbotszeichen. Allerdings wurde das Pkw-Symbol rechts durch die Darstellung eines Fahrrads und eines motorisierten Zweirads, übereinander angeordnet, ersetzt.
Es verbietet nicht nur das Überholen von Fahrzeugen mit vier, sondern auch mit zwei Rädern. Genauer gesagt: Mehrspurige, also drei- oder vierrädrige Kraftfahrzeuge (und Krafträder mit Beiwagen) dürfen hier ab sofort keine Radfahrer oder Roller überholen. Was übrigens bei Missachtung mit dem höchsten bußgeldbedrohten Gebot der Straßenverkehrsordnung (StVO), nämlich ab 70 Euro und einem Flensburg-Punkt, geahndet wird. Hingegen dürfen Fahrräder und Motorräder andere einrädrige Fahrzeuge nach wie vor überholen.
Viele Fragen offen
So weit, so kompliziert. Aber es wird noch komplexer. Die Fragen, die man sich nun stellt, sind: Wo endet das Überholverbot für Zweiräder? Es wird, wie von der StVO vorgeschrieben, nirgends mit dem eigentlich vorgeschriebenen Schild der durchgestrichenen fünf parallel laufenden Linien aufgehoben. Auch ist alternativ kein Zusatzzeichen mit der Länge des Verbots angegeben. Und schon gar nicht wird ersichtlich, dass »sich aus der Örtlichkeit zweifelsfrei ergibt, von wo an eine Gefahr (die das Überholverbot rechtfertigt) nicht mehr besteht«. Der vormalige 50er-Bereich der Breite Straße mündet ab der Schindelstube in die bisherige, ab dort ausgeschilderte, 250 Meter lange 30er- und in die 20er-Zone der Stadtmitte.
Und überhaupt: Warum dürfen Zweiräder ausgerechnet auf der Breite Straße in östlicher Fahrtrichtung Stadtmitte nicht überholt werden? Auf der ebenfalls zur 30er-Zone erklärten Gegenfahrbahn, also in westlicher Richtung Tunnel, darf man Radfahrer weiterhin überholen. Von ernsten Radfahrunfällen auf dieser Strecke ist in den letzten 50 Jahren nichts bekannt geworden. Von einer besonderen Gefahrensituation kann also keine Rede sein.
Die StVO sagt, dass das Überholverbot von Zweirädern »bei gefahrenträchtigen Fahrbahnabschnitten, Engstellen sowie Gefäll- und Steigungsstrecken« angeordnet werden kann. Und wenn der Mindestseitenabstand von 1,50 Meter vom überholenden Fahrzeug nicht reicht.
Bei der Mössinger Verwaltung hat man nun gemerkt, dass dies in der Breite Straße der Fall ist. Also, dass Autofahrer auf der 6,60 Meter schmalen Straße keine Radfahrer überholen können, weil sie sonst auf die Gegenfahrbahn ausweichen müssen (was sie sowieso nur machen, wenn kein Gegenverkehr kommt).
Wie gesagt, nur in Fahrtrichtung Stadtmitte, obwohl dieselbe Straße in die Gegenrichtung genauso breit und dort das Überholen erlaubt ist. Wie im Übrigen noch auf weiteren Kilometern befahrener schmaler Straßen im Stadtgebiet. Die Posse geht weiter: Im Oktober 2023 hat die Stadt ein weiteres Mosaik ihres Radverkehrskonzepts umgesetzt und auf eben dieser Breite Straße die Markierung eines etwa 1,5 m breiten Radfahrschutzstreifens stadteinwärts aufgebracht. Dieser nicht baulich, sondern nur durch weiß-gestrichelte Linien von der Fahrbahn getrennte Bereich ist kein Radweg, sondern eine optische Abstandhilfe – die es mit einem Mindestabstand von 1,50 Meter beim Überholen zu passieren gilt.
Und dieser Streifen wird der Verwaltung jetzt zum Verhängnis. Denn gäbe es ihn nicht, wäre auch kein Überholverbot notwendig. Autos und Busse müssen jetzt stadteinwärts auf wenigstens 400 Metern mit 10 bis 15 Stundenkilometern hinter Radfahrern hertuckeln. Da kommt sicher Freude auf.
Breite Straße zu schmal
Die rechtliche Voraussetzung bei der Anlage des Mössinger Radstreifens war, »dass die Zusammensetzung des Verkehrs eine Benutzung des Schutzstreifens durch Kraftfahrzeuge nur in seltenen Fällen erfordert«. Schon damals müsste also klar gewesen sein, dass sich auf der schmalen Breite Straße beispielsweise zwei Linienbusse »auf dem verbleibenden Fahrbahnteil nicht ohne Gefahr begegnen können und ein Ausweichen auf den Schutzstreifen erzwungen wird«. Eine Situation die es auch in Ofterdingen entlang der Steinlach gibt, wo Anwohner auf der Fahrbahn parken. Womit der Schutzstreifen zur Gefahrenquelle wird und seine Anlage eigentlich keinen Sinn ergibt. Radfahrer haben das in Mössingen erkannt und fahren bevorzugt auf dem breiten Geh- und Radweg auf der linken Seite. Schulkinder unter 10 Jahren fahren dort sowieso.
Zwei Monate nach Auftragung des Radschutzstreifens hat das Verkehrsministerium in Stuttgart einen zusammenfassenden Erlass über »Schutzstreifen für den Radverkehr mit schmaler Kernfahrbahn innerorts« herausgegeben. Demnach »muss der Überholvorgang von 1,5 m stets eingehalten werden können; andernfalls ist bei zu schmalen Fahrbahnen das zu enge Überholen vom Radverkehr … wirksam zu unterbinden«.
Bei Fahrbahnbreiten »unterhalb von 6,6 m ist das Verbot in der Regel erforderlich«, aber »auf möglichst kurze Bereiche zu begrenzen«. Die Prüfung des Einzelfalls liege im Ermessen der unteren Straßenverkehrsbehörde. Welcher »Murks« nun nach zehnmonatiger Prüfung dabei herausgekommen ist, löst auch bei Gemeinderatsvertretern quer durch alle Fraktionen nur Kopfschütteln aus. (GEA)