MÖSSINGEN. Ziemlich genau 60 Jahre ist es her, dass die Breite-Schule in Mössingen nach Gottlieb Rühle benannt wurde, dem Bürgermeister, der in seiner Amtszeit von 1946 bis 1962 viel dafür getan hatte, dass aus dem Bauern- und Handwerkerort an der Steinlach eine kleine Industriestadt wurde. Doch Gottlieb Rühle hat auch eine andere Seite. Er war auch Mössinger Bürgermeister in der NS-Zeit, ein williger Verwaltungsbeamter, der dem Regime eifrig diente.
Deshalb soll er nun nicht mehr Namensgeber für eine Grundschule sein. Einstimmig haben sich die in der Schulkonferenz vertretenen Eltern und Lehrer für den neuen Namen Farrenberg-Grundschule ausgesprochen. Am Montag, 7. April, ist das Thema im Gemeinderat.
Große Grundsatzdiskussionen sind nicht mehr zu erwarten. Schließlich ist die Änderung des Namens im Grundsatz längst beschlossen. Auslöser war die Umwandlung der einstigen Werkreal- in eine reine Grundschule zum Schuljahr 2018/19. Und weil die Langgass-Grundschule seither als Außenstelle der Gottlieb-Rühle-Schule geführt wurde, war es erklärtes Ziel, mit einem neuen Konzept für beide Schulen auch einen einheitlichen Namen einzuführen.
Hitzige Diskussionen
Im Januar vergangenen Jahres hat der Gemeinderat dem Wunsch nach einem Namenswechsel grundsätzlich zugestimmt. Anfang Februar diesen Jahres hat die Schule nun den Antrag auf den neuen Namen Farrenberg-Grundschule eingereicht, der für beide Schulen gelten soll.
Ein bereits von der Gesamtlehrerkonferenz im Gemeinderat eingebrachter Vorschlag für »Lehmbruck-Grundschule« nach dem Namen des renommierten Architekten hatte, weil zu abstrakt für Grundschulkinder, bei den Eltern keine Zustimmung gefunden. Die linke Liste hatte auch Anna Nill als Namenspatronin ins Gespräch gebracht, die als 15-Jährige in die USA ausgewandert war, dort mit Immobilien ein Vermögen erworben und einen Teil ihres Reichtums der Stadt Mössingen gespendet hatte – das Kapital für die Anna-und-Jakob-Nill-Stiftung. Dieser Vorschlag spielte allerdings keine Rolle in den Diskussionen. So wird nun nach der Dreifürstensteinschule, der Filsenbergschule in Öschingen und der Andeckschule in Talheim die vierte Schule in der Stadt nach einer markanten Erhebung benannt.
Um die Bewertung der Person von Gottlieb Rühle hat es in der Vergangenheit »hitzige Diskussionen« gegeben, wie Franziska Blum, Leiterin der städtischen Museen und des Archivs, in einer Vorlage für den Gemeinderat schreibt. Für die einen hat er sich um die Stadt verdient gemacht, hat nach dem Krieg Wohnungen für Flüchtlinge und Vertriebene gebaut, hat die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben, die Wasserversorgung gesichert und die Schule in der Breite gebaut. Als er 1965 starb, forderte seine Witwe von der Gemeinde, ein Ehrengrab für ihn einzurichten. Dies wurde abgelehnt, aber der Gemeinderat beschloss, die Breite-Schule nach ihm zu benennen.
Unrühmliche Rolle bei »Arisierung« der Pausa
Rühles NS-Vergangenheit war damals kein Hindernis. Dabei trat der damalige Ratschreiber unter Bürgermeister Karl Jaggy nicht nur im Mai 1933 in die NSDAP ein, sondern fünf Monate später auch noch in die SA. Nachdem Jaggy von den Nazis schnell abgesetzt wurde und sich ein von außen eingesetzter Kandidat nur kurz halten konnte, wurde Gottlieb Rühle zum 1. Oktober 1933 zum Bürgermeister von Mössingen ernannt.
Eine unrühmliche Rolle spielte Rühle bei der »Arisierung« der Pausa. In einer konzertierten Aktion zusammen mit dem Rottenburger Landrat, der Kreissparkasse und dem Unternehmer Richard Burkhardt trat Rühle als »treibende Kraft« auf, um die jüdischen Pausa-Eigentümer Artur und Felix Löwenstein zum Verkauf ihres Unternehmens weit unter Wert zu zwingen.
Obwohl sich das Unternehmen gut von der Wirtschaftskrise erholt hatte, argumentierte Rühle dabei gegen besseres Wissen mit einer angeblichen Notlage der Pausa. Die an der Aktion Beteiligten wurden nach dem Krieg vom Tübinger Landgericht als »bösgläubige Täter« schuldig gesprochen.
»Ganz im Sinne der NS-Behörden«, schreibt Franziska Blum, habe Rühle auch gehandelt, als es um die Zwangssterilisierung von »erbkranken« Menschen ging. Er lieferte damals eine Liste mit den Namen von 32 Menschen mit Behinderungen aus Mössingen und Belsen an das Gesundheitsamt. Auch im Rahmen der Euthanasie-Aktion T4, bei der 1940 psychisch und körperlich Kranke – im damaligen Jargon lebensunwertes Leben – in Grafeneck ermordet wurden, arbeitete Rühle bereitwillig mit.
Mindestens fünf Menschen aus Mössingen und Belsen, wahrscheinlich sogar mehr, wurde im Rahmen dieser Aktion umgebracht. Einer von ihnen war der Belsener Johann Martin Wagner, der bereits in der Heilanstalt Zwiefalten war. Im April 1938 berichtete Rühle, dass sich Wagners Zustand nicht gebessert habe. Im August 1940 wurde der 34-Jährige nach Grafeneck gebracht und dort getötet.
Nicht mehr zeitgemäß?
In den eher milden Entnazifizierungsverfahren in der französischen Zone wurde Gottlieb Rühle als »Mitläufer« eingestuft. Eine versöhnliche Haltung hatte auch die örtliche KPD, die mit Jakob Stotz als stellvertretendem Bürgermeister an der Spitze in der ersten Zeit nach dem Krieg die Geschicke der Gemeinde lenkte. So konnte Gottlieb Rühle bei der Bürgermeisterwahl 1946 wieder antreten und wurde – als einziger Kandidat – gewählt.
Franziska Blums Fazit: »Ganz abgesehen von der starken Belastung Gottlieb Rühles erscheint die Benennung einer Schule nach einem NS-Bürgermeister allgemein als unangemessen und nicht mehr zeitgemäß.« 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus sei eine Umbenennung sehr zu empfehlen. (GEA)
GEMEINDERAT
Mit der Umbenennung der Gottlieb-Rühle-Schule in Farrenberg-Grundschule beschäftigt sich der Mössinger Gemeinderat in seiner Sitzung am Montag, 7. April. Beginn ist um 19 Uhr. Weitere Themen sind der Bericht zur Tourismusförderung, Informationen zum Stand der Planung für die Stadtbahn und das Rathausquartier sowie der Jahresabschluss 2020. (pp)